Bucheinbände in Menschenleder – über Geschmack lässt sich streiten

„…in kleine Andenken verwandelt…“

Selbstverständlich gibt es auch kritische Stimmen. So finden Kerstens Einbände Eingang in das Werk „Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe“. Hier erfährt der erstaunte Leser, dass es sich bei Kerstens grausiger Bastelei nicht etwa um einen bis dato unerhörten Vorgang handelt:

„(…) Wenn die Tibetaner Menschenhaut zum Überspannen von Tamburinen verwenden, so stehen sie damit keineswegs vereinzelt da. In Europa ist dieser, im gegerbten Zustande von Kalbsleder schwer zu unterscheidende Stoff auch schon recht häufig zur Verwendung gekommen, und zwar nicht nur in Riemenform, wie in dem heute noch in Upsala verwahrten Kunstschrein, der dem König Gustav Adolf in Augsburg verehrt worden ist, sondern auch zur Buchausstattung. In der Göttinger Bibliothek befindet sich zum Beispiel ein in Menschenleder gebundener Hippokrates, im Musee Carnevalet in Paris ein ähnliches Buch, das die Konstitution von 1793 umfasst; der französische Nationalkonvent soll die Gerberindustrie der Menschenhaut besonders gefördert haben.

Selbst heutzutage werden noch Bücher in Menschenleder gebunden, wie zum Beispiel eines von Paul Kersten*. Die meisten solcher wunderlicher Bucheinbände oder auch Sättel gehen auf die Haut justifizierter Verbrecher zurück, ausnahmsweise auch auf die Haut amputierter Gliedmaßen, die man so in kleine Andenken verwandelte; aber es wird uns auch von einem Einband im Besitze des Astronomen Flammarion berichtet, dem die Haut von einer schönen Gräfin, die ihn verehrte, für sein Werk „Les terres du ciel“ letztwillig vermacht worden sein soll. Ein anderer Pariser, nämlich der Chemiker Barruel, soll wieder einen Ring besitzen, der aus einem seltsamen Material hergestellt wurde; obwohl eigentlich gewöhnliches Eisen, muß er doch zu den Raritäten gezählt werden, da dieses Eisen nach und nach in ganz kleinen Mengen aus menschlichem Blute gewonnen worden ist. Eine Dame der Chikagoer Gesellschaft soll ein Halsband aus eigenartig präparierten peruanischen Menschenaugen besitzen; auch ein Geschmack!

Wie harmlos sind dagegen jene Fingerringe, in die statt eines Steines ein Erstlingszahn gefaßt ist, oder der auf gleicher Stufe stehende Jagdschmuck, in dem wir eine atavistische Gewohnheit, Jagdtrophäen als Schmuck zu benützen, wiedererkennen!

(G. E. Pazaurek: Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe. Stuttgart/Berlin, Deutsche Verlagsanstalt 1912)

Die von Kersten so dankbar aufgegriffene kreative Technik hat demnach eine lange Tradition, deren Ursprung wohl in dem derb-kreativen, bereits seit sumerischer Zeit belegten Rechtsbrauch des Schindens zu suchen ist. Pazaurek hat freundlicherweise soviel Common Sense, nur einige wenige Beispiele als Beleg anzuführen. Doch allgemein scheint das Thema eher als Kuriosität betrachtet worden zu sein: Bereits zehn Jahre vor Kerstens kleinem Fauxpas findet sich in Paul Adams Archiv für Buchbinderei und verwandte Geschäftszweige unter der Rubrik Verschiedenes die folgende unterhaltsame Randnotiz:

VERSCHIEDENES

In Menschenhaut gebundene Bücher.

Die Resultate einer seltsamen Laune sind ein paar Bücher, die sich in der Privatbibliothek des Arztes Dr. Matthew Wood in Philadelphia befinden. Sie sind in Menschenhaut und zwar in die Haut ihres früheren Besitzers, eines jungen Deutschen namens Ernst Kaufmann, gebunden. Es sind: „L’histoire de Gil Blas“ von Le Sage, „A book about Doctors“ in zwei Bänden von Jeaffreson, „Episoden aus dem Leben der Insekten“ in drei Bänden, und eine von Kaufman unter dem Titel „200 deutsche Männer“ zusammengefasste Sammlung von Holzschnitten berühmter Deutscher. Die sieben Bände sind in Halbband gebunden und für den Laien von gewöhnlichem Tierleder nicht zu unterscheiden. Es war Kaufmanns sehnlicher Wunsch, sich durch eine bedeutende schriftstellerische Arbeit einen Platz in der Literatur zu verschaffen; Krankheit und früher Tod hinderten ihn daran, und so wollte er wenigstens auf diese Weise mit seinen Lieblingsbüchern verknüpft bleiben. Diese stehen in Woods Bibliothek auf des Verstorbenen besonderen Wunsch zwischen einer Ausgabe des Horaz und Eckermanns Gesprächen mit Goethe.

Dr. Wood ist ein auf medizinischem Gebiete wohlbekannter Schriftsteller. Er war während Kaufmans langwieriger Krankheit sein Arzt; gemeinsames literarisches Interesse machte ihn zu seinem Freunde und so zu dem Erben der seltenen Bücher. Er lernte Kaufmann kenen, nachdem er vor kurzem aus Deutschland hinübergekommen war. Wood schildert ihn als sehr gebildet und ungewöhnlich belesen. Da er allein stand und völlig mittellos war, so verschaffte ihm der Arzt deutsche Studenten als Schüler. Für die schöne Bibliothek des Arztes hatte er eine ganz besondere Vorliebe. Während seiner Krankheit besuchten ihn Wood und sein Assistent häufig, plauderten mit ihm und lasen ihm vor. Bei dieser Gelgenheit erzählte Wood einmal die Bemerkung des Essayisten Montaigne, wenn ihm auch jeder Ruhm versagt bleiben sollte, so würde er doch in dem Gedanken völlig Genüge finden. zu wissen, dass einst seine Bücher in einer Bibliothek einen Platz zwischen Horaz und Virgil finden würden. Das machte auf Kaufmann tiefen Eindruck, der kurz vor seinem Tode den Assistenten Dr. Norton zum Vertrauten seiner Pläne machte und ihm das Versprechen abnötigte, seinen seltsamen Wunsch zu erfüllen.

Auch in Europa finden sich in Menschenhaut gebundene Bücher, so z.B. im Britischen Museum; von der Gräfin St. Auge erzählt man, dass sie dem Astronomen Flammarion die Haut ihrer schönen Schultern zum Einbinden eines Buches vermachte.

(Archiv für Buchbinderei und verwandte Geschäftszweige. II. Jahrgang Heft I April 1902)

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Author: Andreas Schüler

Geboren 1970 · Aufgewachsen in Nordhessen · Studium in Frankfurt und Halle · Lebt und arbetet in Berlin · Stationen als Ghostwriter, Konzepter, Art Director, Onlineredakteur, Creative Director, Head of Content, Head of Marketing. Vater von zwei Söhnen.

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6 Kommentare

  1. Sehr geehrter Herr Schüler,

    vielen Dank für Ihre Beiträge im ‘Netz’ zum Thema Bucheinband und speziell Paul Kersten. Im Hinblick auf einerseits Ihre vielseitigen Tätigkeiten und andererseits doch recht präzisen Kenntnisse zum Thema ‘Bucheinband’ würde ich gerne fragen, auf Grund welcher Ausbildung in der Buchbinderei Sie sich diese Kenntnisse erworben haben?
    Vor allem interessiert mich die von Ihnen bei den Pergamentbänden gebrauchte Vokabel ‘spanische Kante’, woher Sie diesen Begriff kennen? Ich frage deshalb, weil ich seit Jahren mich mit der Terminologie befasse, und für diese Kante sind tatsächlich verschiedene Begriffe in Umlauf.
    Mit freundlichen Grüßen,

    Dag-Ernst Petersen

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    • Guten Tag Herr Petersen,

      ich fühle mich geehrt, dass Sie mir präzise Kenntnisse zugestehen; leider fallen diese tatsächlich eher spärlich aus: Ich habe keinerlei buchbinderische Ausbildung genossen und plappere lediglich nach, was ich als Sammler und Bibliophiler hier und dort zu dem Thema aufschnappe. Allerdings habe ich im Nachplappern berufsbedingt eine gewisse Expertise und wähle meine Quellen mit Bedacht.

      Der Terminus „spanische Kanten“ ist in Antiquariats- und Auktionskatalogen häufig anzutreffen. Wo ich ihn aufgeschnappt habe, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Adolf Baer verwendet ihn in seinem Beitrag „Einiges von Pergamentbänden“ (Archiv für Buchbinderei 1931, Bd. 31-32, S. 8):

      Sehr interessant sind die sogenannten englischen und spanischen Kanten, welche ebenfalls sich sehr werkgerecht mit Pergament arbeiten lassen. Sie sind wahrscheinlich die Überreste der früheren arabischen Einbände mit ihren zu Buchtaschen verlängerten Deckeln. Daß diese Kanten als Schutz für Goldschnitte gedient haben sollen, ist nicht sehr einleuchtend, da kein Grund besteht, nur die Vorderschnitte zu schützen. Sie dienen jedenfalls heute nur noch als eigenartiger Schmuck und geben einem Buche eine besondere Note. Zu ihrer Herstellung …

      Beste Grüße vom Bayerischen Wald in den Harz,
      Andreas Schüler

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  2. Sehr geehrter Herr Schüler!

    “Wem es unchristlich erscheinen will, Bucheinbände in Menschenleder zu fertigen …” – ich finde, die Verarbeitung oder Verwendung von menschlichen Körperteilen als lediglich in nicht-christlichen Kulturen üblich zu implizieren und diese auf diese Weise zu diffamieren, ebenso unpassend wie unzutreffend.

    In der katholischen Kirche ist das Besitzen und Anbeten von Leichenteilen – aka “Reliquien” – seit Jahrhunderten übliche Praxis und noch heute auf dem gesamten Erdball verbreitet. Aus meiner Sicht die das in keiner Weise besser als Bucheinbände in Menschenhaut – die ich, um da keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, ebenso wenig gutheiße.

    Freundliche Grüße

    Uwe Böttcher

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    • Sehr geehrter Herr Böttcher,

      vielen Dank für Ihren Beitrag. “Unchristlich” bedeutet nicht “nicht-christlich”, sondern “nicht mit christlichen Prinzipien vereinbar”. Schon Stieler schreibt vom “unchristlichen Christenthum”. Ich wollte keineswegs darauf hinaus, dass derartiges nur in nicht-christlichen Kulturen denkbar sei oder diese gar diffamieren. Einige Sätze weiter unten gehe ich ja auch auf die unchristliche christliche Praxis ein, Kirchenportale mit den Häuten Geschundener zu beziehen.

      Beste Grüße
      Andreas Schüler

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