Vom plötzlichen Verschwinden des Buchbinders Carl Sonntag jun.

Wulfen, Der Genussmensch. München, Hans von Weber 1911

Wulfen, Der Genussmensch. München, Hans von Weber 1911. Ganzpergament von Carl Sonntag jun.

Wer sich mit Luxusdrucken aus dem Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg befasst, kommt nicht an Carl Sonntag jun. vorbei. Binnen kürzester Zeit avanciert der bei Sangorski & Sutcliffe in London ausgebildete Buchbinder zu einem der gefragtesten Einbandkünstler des Landes. Doch ebenso plötzlich, wie er aus dem Nichts auftaucht, hängt er seine Berufung nach 7 Jahren an den Nagel und verschwindet so gründlich von der Bildfläche, dass ihn ein zeitgenössischer Chronist für tot hält. Wie kam es zu diesem abrupten Ende einer Karriere?

Der Eintrag Carl Sonntag jun. auf Wikipedia basiert auf diesem Artikel.


 

Shooting-Star der Einbandkunst

Carl Sonntag jun., Sohn eines Tabakgroßhändlers, wird 1883 in Leipzig geboren. Nach Schulzeit und Abitur am Thomas-Gymnasium absolviert er eine Buchbinderlehre in der Roßberg’schen Buchhandlung, im Anschluss bereist er Frankreich und England, um seine Kenntnisse bei den besten Buchbindern der Zeit zu vertiefen. In London arbeitet er in der Werkstatt von Sangorski & Sutcliffe, die, wenngleich gerade erst drei Jahre im Geschäft, bereits zu den renommiertesten und angesagtesten Buchbindereien Europas zählt und das Erbe von Zaehnsdorff weiterführt. In diesem Umfeld lernt der junge Sonntag, sein Handwerk ausschließlich in kompromissloser Qualität und mit den gediegensten Einbandmaterialien auszuführen. Sein Credo: Material und Ausführung müssen zu Inhalt und Verwendungszweck des Buches passen; auch in Pappe und Leinen lassen sich ebenso haltbare wie ästhetische Einbände fertigen.

Als Fedor von Zobeltitz 1904 auf Anregung von Georg Witkowski den Leipziger Bibliophilen-Abend ins Leben ruft, zählt Carl Sonntag jun. gemeinsam mit seinem Freund und späteren Schwager, dem Antiquar und Kunsthändler Gustav Nebehay, zu den ersten Mitgliedern. Sie befinden sich in bester Gesellschaft – die Mitgliederliste liest sich wie das Who is Who der damaligen Buchkunstszene. Johannes Baensch-Drugulin, Eugen Diederichs, Anton Kippenberg, Carl-Ernst Poeschel, Ernst Rowohlt und Julius Zeitler stehen auf der Mitgliederliste. Auch der angesehene Buchkünstler Walter Tiemann und die gefeierte Autorin Ricarda Huch sind mit von der Partie. Aufgrund des hohen Andrangs wird die Gesellschaft bald auf neunundneunzig Mitglieder beschränkt – die berühmten „Leipziger 99“. In dieser illustren Gesellschaft knüpft Carl Sonntag jun. die Kontakte zu vielen seiner späteren Auftraggeber.

Mit Eröffnung seines Buchbindereibetriebes im April 1908 macht sich Carl Sonntag jun. binnen kürzester Zeit einen Namen und profiliert sich als einer der angesehensten Meister seines Fachs im Deutschen Reich. Tiemann, Poeschel und Kippenberg lassen die ersten Luxuspublikationen der Janus-Presse und der Ernst-Ludwig-Presse bei dem Leipziger Buchbinder binden, Julius Zeitler die Vorzugsausgabe der Liebesbriefe der Babet, Hans von Weber betraut ihn zunächst mit den Bindearbeiten für seine erlesenen Privatdrucke und später mit Vorzugsausgaben seiner Hundertdrucke, und auch Kurt Wolff lässt einige seiner Verlagswerke bei Drugulin drucken und von Sonntag in gediegene Einbände fassen.

1910 wird Carl Sonntag jun. bereits unter die führenden Experten seines Fachs gezählt. Dr. Ludwig Volkmann, 1. Vorsteher des Deutschen Buchgewerbe-Vereins in Leipzig, versichert sich seiner Mithilfe und lässt ihn für die Fachveröffentlichung Das moderne Buch ein Kapitel über den modernen Bucheinband verfassen (Das moderne Buch. Die graphischen Künste der Gegenwart, III. Band. Herausgegeben von Dr. Ludwig Volkmann (…) unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner. Verlag von Felix Kraus, Stuttgart 1910). Sonntag befindet sich in bester Gesellschaft: Neben ihm kommen Koryphäen wie Carl Ernst Poeschel, Jean Loubier und andere „hervorragende Fachmänner“ zu Wort.

Das Leipziger Adressbuch für 1908 führt 168 Buchbindereibetriebe auf, darunter jede Menge alte Bekannte wie Enders, Fritzsche, Sperling, Fikentscher, Köllner, Hübel & Denck und Paul Sigrist. Etwa ein Drittel von ihnen befinden sich im Umkreis von 1 km um Sonntags Werkstatt, ein weiteres Drittel im benachbarten Stadtteil Reudnitz. Allein in der Sternwartenstraße sind 8 Hausnummern mit Buchbindereien belegt. Carl Sonntags Werkstatt befand sich in Hausnummer 19, im Innenhof des Gebäudes Sternwartenstraße 15–21. Das Haus existiert noch heute – es handelt sich um „Klingers Hof“, wo sich auch die Seifenfabrik von Georg Klinger befand, dem Vater des Künstlers Max Klinger. Nach Sonntags Umzug in die Albertstraße übernahm H. Reinhold Engel (vorher Sternwartenstraße 51) die Werkstatt, dessen Nachfolger wiederum wurde offenbar Sonntags ehemaliger Mitarbeiter Walter Hacker, MdE, der in den Zwanzigerjahren die Hausnummern 15 bis 21 belegte (Taschenbuch für Bücherfreunde, München 1925, S.94). Hacker bekundet 1922 im Zwiebelfisch:

„Ich habe bei der früheren Firma Carl Sonntag jun. als alleinige Spezialität 3 1/2 Jahre nur Pergamentbände gearbeitet, und zwar schon im Jahre 1909; erst 1912 kam Fräulein Thiersch zu Herrn Sonntag, um sich im Bücherbinden weiter auszubilden; ich habe Fräulein Thiersch den Pergamentband gelehrt, bin dann im Jahre 1913 bei Fräulein Thiersch in Stellung gewesen, war danach ebenfalls in Bremen bei der Bremer Presse in der Binderei und habe dort als Alleiniger sämtliche Pergamentbände gearbeitet.“

Zwiebelfisch, XIV. Jahrgang (1922) Heft 1 – 3, Ss. 14 – 18

Wenn Hacker bei Sonntag ausschließlich Pergamentbände gefertigt hat und sich überdies entschied, den Betrieb fortzuführen, dann kann, so scheint mir, die Auftragslage nicht ganz so verheerend gewesen sein. 1923 ist Walter Hackers Nachfolgebetrieb Leipzigs größte Handbindewerkstatt (Archiv für Buchbinderei, 23. Jg., Halle 1923, S. 58). Und wenn Frieda Thiersch nach künstlerischer Ausbildung durch Vater Thiersch, drei Jahren Studium in der Münchener Kunstgewerbeschule und zwei Jahren bei dem Leiter der Doves Bindery, Charles Mc. Leish, zu Carl Sonntag gegangen ist, um dort ihre Kenntnisse zu vertiefen, dann muss sein Betrieb zu den besten Adressen Deutschlands gezählt haben.

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Author: Andreas Schüler

Geboren 1970 · Aufgewachsen in Nordhessen · Studium in Frankfurt und Halle · Lebt und arbetet in Berlin · Stationen als Ghostwriter, Konzepter, Art Director, Onlineredakteur, Creative Director, Head of Content, Head of Marketing. Vater von zwei Söhnen.

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