Ein Cicerone im rücksichtslosen Lebensgenuss

Die Erstausgabe in 65 Exemplaren im Einband von Carl Sonntag jun.

Gleich zweimal widmete der Hyperionverlag Willem van Wulfens Buch “Der Genussmensch” eine bibliophile Auflage – einmal im Jahr 1911 unter der Ägide von Hans von Weber in München, ein weiteres Mal 9 Jahre später, als der Verlag bereits seit einigen Jahren mit geändertem verlegerischen Schwerpunkt in Berlin wirkte. Offenbar traf der “Cicerone im rücksichtslosen Lebensgenuss”, so der Untertitel, den Geschmack des bibliophilen Publikums der Zehnerjahre.

Der Genussmensch ist ein Paradebeispiel dafür, was bei einer Luxusausgabe richtig und falsch gemacht werden kann: zweimal derselbe Inhalt, zweimal 8° auf Büttenpapier im Ganzpergament-Einband – und dennoch könnten die beiden Bücher kaum unterschiedlicher sein. Während sich Hans von Weber für solide Ganzpergament-Handeinbände von Carl Sonntag jun. entschied, setzten seine Berliner Epigonen auf ziemlich räudig aussehende, maschinell gefertigte Decken. Ich würde das Material für Pergamin halten, aber alle Quellen sagen, es sei Pergament. Auch in typographischer Hinsicht meine ich, schon attraktivere Einbände gesehen zu haben.

Über die Identität des Autors ist sich die Fachwelt uneins. Hayn/Gotendorf tippen auf Kurt Martens, Cousin des Verleger-Tausendsassas Hans von Weber und Busenfreund Thomas Manns, dem einer der Posaunenengel in der Dresdner Frauenkirche gewidmet ist. Das Pseudonymenlexikon von Weller und Eimer glaubt, hinter dem Nom de Plume „den Kulturhistoriker“ Willem van Vloten zu erkennen. Auch über diesen ist zumindest im Internet die Information spärlich gestreut. Zwar findet sich in der Wikipedia und in zahlreichen Straßennamen ein Herr dieses Namens, doch handelt es sich um einen Bergbauingenieur, der zwar zurselben Zeit lebte, aber schwerlich als Verfasser schöngeistiger, genussbetonter Literatur infrage kommt. Dennoch scheint’s zu stimmen, denn Hans von Weber gibt selbst in seiner kurzen Buchvorstellung zu Vloten, ‘Don Juan empor’ (Basel, Rhein 1922) im ‘Zwiebelfisch’ den Hinweis: „Ich glaube, früher nannte sich der Verfasser Wulfen.“ [Zwiebelfisch XV. Jahrgang, Heft 4/6 1922, S. 69].

Wulfen ist ein Mysterium der Art, wie sie beim Hyperionverlag häufiger auftauchen: Bei Namen wie Catherina Godwin, El Em und anderen unter dem Dach des Hans von Weber versammelten Literaten sieht die Quellenlage ähnlich dürftig aus. Aber sein heute längst in der Vergessenheit versunkenes Werk scheint zumindest bei literaturaffinen Zeitgenossen einige Beachtung und Bewunderung erfahren zu haben. So schreibt zum Beispiel der Wiener Kulturhistoriker und Schriftsteller Professor Dr. Karl Toth in seinem Beitrag über Jacques Casanova de Seingalt in der ‘Germanisch-romanischen Monatsschrift’ 1913:

„Veröffentlichungen unserer großen Verlagsanstalten über das 18. Jahrhundert haben Vorarbeit getan, und nun ist auch die neue Casanovaübertragung von H. Conrad bei G. Müller-München vollständig geworden, als kräftiger Bundesgenosse in den Bestrebungen eines Willem van Wulfen, der in seinem ‘Genußmenschen’ (1912) nordische, überschäumende Lebenskraft mit machiavellistischem Machtgelüste und Casanovas Lebensparfum eint und in prachtvoller Nacktheit alle verhüllenden Vorurteile unter die Füße tritt (…)“.

Ergänzung vom 01.08.2015:
Aufgrund der Hinweise von Jörg Zemp (siehe Kommentare) bin ich den van Vlotens noch einmal nachgegangen. Die von Herrn Zemp angeführten Quellen belegen zweifelsfrei, dass es sich bei Willem van Wulfen um den Gartenkünstler und zeitweiligen Ehemann Camilla Meyers Wilhelm van Vloten handelt, der wiederum nicht mit dem gleichnamigen Industriellen und Schwager Albert Verweys identisch ist.

Der Autor unseres Cicerone war wohl ein Enkel von Dr. jur. Wilhelm Helenus van Vloten (1794-1883), der um 1813 mit seinen Eltern von Suriname kommend nach Schaffhausen zog und später bis zum Geheimratstitel und in den Rang eines Generalstabsobersten brachte. Wilhelm van Vloten lebte auf seinem Besitz in Malans (Graubünden). Er gehörte zum Bekanntenkreis von Eberhard Grisebach und Helene Spengler. 1918 erwarb er von Emil Ludwig Kirchner ein Stilleben Rote Tulpen, bei diesem Anlass porträtierte ihn Kirchner in einem Holzschnitt (Sch 304/D 329).

Wilhelm Albert Samuel Van Vloten

Author: Andreas Schüler

Geboren 1970 · Aufgewachsen in Nordhessen · Studium in Frankfurt und Halle · Lebt und arbetet in Berlin · Stationen als Ghostwriter, Konzepter, Art Director, Onlineredakteur, Creative Director, Head of Content, Head of Marketing. Vater von zwei Söhnen.

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6 Kommentare

  1. Wulfens Genussmensch

    Ueber ein transkribiertes Manuskript von Herrliberg / Zürich – (ist eine lange Geschichte!) – stiess ich auch auf Willem van Vloten alias Willem van Wulfen. Die Autorin des Manuskrips war persönlich mit Camilla Meyer (1879-1936), Tochter des Schriftsteller C.F. Meyer (1825-98) befreundet, die ihrerseits mit van Vloten kurze Zeit verheiratet war. s. http://www.cfmeyer.ch/leben_und_werk/1870.html
    Die Autorin schildert in ihren „Erinnerungen“ ihre Eindrücke und erwähnt auch das Buch Der Genussmensch …

    Jörg Zemp

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    • Hallo Herr Zemp,
      das klingt hochinteressant – ich werde mir mal gestatten, Ihnen eine E-Mail dazu zu schreiben.
      Beste Grüße, A. Schüler

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      • Nochmals zu Wulfens Genussmensch

        Guten Abend Herr Schüler,

        Nachdem ich 4 von 5 Büchern von Willem van Vloten gelesen habe, inklusive ausgedehnten Nachforschungen, bin ich mir sicher, dass van Wulfen van Vloten ist:
        Wilhelm Albert Samuel van Vloten: geboren in Neuhausen / Kanton Schaffhausen,
        28.8. 1867, gest. am 26.1.1953 in Orselina / Kanton Tessin.

        Beste Grüsse, Jörg Zemp

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        • Guten Abend Herr Zemp,

          ja, Sie haben recht, die Sachlage ist eindeutig. Ich war zunächst unschlüssig, ob es sich bei dem holländischen Hütteningenieur Willem van Vloten (* 1855 in Deventer; † 1925 in Nunspeet) und dem schweizerischen Gartenkünstler um ein und dieselbe Person handeln könnte – denn tatsächlich gibt es eigenartige Berührungspunkte über die Kosmiker: Der Holländer war der Bruder Kitty van Vlotens und somit der Schwager Albert Verweys – und er war mit Ludwig Klages befreundet. Tatsächlich sind sie entfernte Verwandte, beide sind Nachfahren von Willem van Vloten (1725-1782) aus Utrecht.

          Dennoch stehe ich in der Genealogie des Schaffhauseners vor einem kleinen Rätsel: Der Name van Vloten taucht dort erstmals auf, als Oberst Dr. jur. Wilhelm Helenus van Vloten (1794-1883) im Jahr 1813 aus Berbice (Suriname) dorthin zieht. 1816 kauft er das Gehöft „Rabenfluh“, in den 1850er Jahren übernimmt sein einziger Sohn Franz Helenus (1833-1919) den Besitz. 1905 befindet sich das Gehöft im Besitz von Franz Wilhelm van Vloten (1862–1928), wiederum der einzige Sohn von Franz Helenus. Woher kommt bei all den Einzelsöhnen unser Wilhelm Albert Samuel?

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  2. Spitze, Herr Zemp, genau so etwas habe ich bei ancestry vergeblich gesucht.

    Tausend Dank und viele Grüße von Andreas Schüler

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