Der ewige Krieg
Von Catherina Godwin
Als ich im Frühling den mächtigen Friedenspalast in Haag zum ersten Male sah, schien eine Atmosphäre von Verlassenheit den kahlen Riesenbau zu umschweben. Oede starrten aus rotem Gestein die trüben Fensterscheiben, hinter denen sich kein Leben regte. Rückerinnernd scheint mir jener Friedenspalast wie das Symbol seiner eigenen mächtigen Idee, die verlassen und unbelebt, ewig unzeitgemäß bleiben muß. – Entsetzen schleicht über uns alle dahin, daß gerade jetzt, da die große Friedensidee schon aufgebaut schien, die gewaltige Theorie des Völkerfriedens sich plötzlich gebietend in ihren krassen Gegensatz: – in die gewaltige Realität des Völkerkrieges – verwandelte.
Aber ist denn im letzten der Gegensatz von Krieg und Frieden so kraß? Setzt denn das Extrem so unerbittlich grausam ein, wie es uns scheinen will? Sind Krieg und Frieden nicht vielmehr Wechselbegriffe, die nicht von einander lösbar sind? Gehen sie nicht gewissermaßen in einander über und arbeiten einer für den andern, so wie der Militarismus in Friedenszeiten für den Krieg sich rüstet und in Kriegszeiten nur für den Frieden kämpft? Arbeiten sie nicht beide in identischem Streben ständig für ihr gemeinsames Ziel: für die Erhaltung – für den Fortschritt – für das Leben der Nation? Auch der Frieden trägt in sich den Widerschimmer des Krieges. Denn wenn das Ich der Nation, den akuten Kampf mit der Waffe aufgibt, dann beginnt sofort der andere, chronische Krieg zwischen den einzelnen Menschen, den wir „Konkurrenz“ nennen; und wieder ersteht erneut und verstärkt der heimliche Kampf von Kaste zu Kaste, vom Ich zum Ich. Und auch dieser Kampf ist untrennbar mit dem Kulturbegriffe des Fortschritts verknüpft, auch in diesem Kampfe werden Kräfte gemessen und gesteigert, es versinken die Einen und steigen die Anderen und auch hier ahnen wir, wie beim Kampfe der Nation, daß auch unser Lebenskampf für die kommenden und wiederkommenden Generationen gekämpft wird.
Es gibt keinen Frieden, wie wir ihn träumen. Auch Frieden ist rudimentärer Krieg. Der scheinbare Lebensdualismus von Krieg und Frieden ist geboren aus einer Lebenseinheit. Sobald wir den Kampf bekämpfen, bekämpfen wir das Leben selbst. Denn wo das Erdreich von Leben beginnt sich zu regen, keimt der Kampf empor, der mit dem Lebensbegriffe verwachsen ist. Der Lebensausdruck ist die Bewegung und jede Bewegung ist Kampf. Wir sind nun einmal Kriegsvölker, vom Beispiel der Natur bestimmt, zur Verdrängung des Schwächeren durch den Stärkeren. Es ist dies das Vernichtungsprinzip des Einzelnen und das Erhaltungsprinzip der Allen.
Und wie der Eine und die Allen, über sich selbst und ihr Menschentum hinaus nach dem Göttlichen streben, das sie in hundertfacher Gestalt sich symbolisieren und zu dem sie hienieden doch nur in ihrer Sehnsucht gelangen — so ist das Streben nach dem Frieden, der heilige Wunsch nach einem fernen hohen Ziele, an das wir glauben und für das wir gläubig immer wieder und wieder – in blutigem Kampfe – kämpfen.
In: März Jg. 8, 1914, Heft 4, Ss. 298 bis 300