Die Auferstehung des Volksideals
Von Catherina Godwin
Der enttäuschte Idealist, der heimlich an seinen wunden Idealen krankt und es im Grunde allen anderen verübelt, daß er seine Ideale so garnicht bei ihnen anbringt und sie stets heimatlos in noch geschwächterem Zustande zu ihm zurückkehren — dieser enttäuschte Idealist erlebt heute die große Stunde neuer Offenbarungswahrheit.
Er, der allmählich zu dem resignierten Schluß gelangte, daß das Ideal nur ein zweckloser Luxus der seelischen Aristokratie sei, nicht verwendbar in der Wirklichkeit, — Hemmung, die jeden Weg ins Alltägliche versperrt — er sieht plötzlich wie eine Vision die Masse der Menschheit von lebendigem Idealismus durchstrahlt auferstehen, er sieht sie begeistert das idealste Opfer für eine Idee darbringen, dessen er selbst mit seinen müden Idealen sich nicht mehr fähig fühlt.
Und zwar erkennt er, daß grade die, denen er rundweg jedes Ideal abgesprochen hätte: jene Kategorie gesunder materieller Realisten, vor denen er längst seine Ideale versteckte und aus Notwehr den Cyniker mimte – ja er erkennt, daß die, die bisher Hauptvertreter seines Weltkummers waren, heute zum größten Teile die Hauptträger des Volksideals sind.
Und trotz aller Zweifel ahnt er: die Menschen haben wirkliche Begeisterung, haben echte Ueberzeugung! Diese persönliche Einfühlung jedes Einzelnen in den großen Zusammenhang, diese heroische Entselbstung, muß eine besondere, innerlich verwandelte und vergeistigte Ursache haben.
Aber dann sagt er sich gleich darauf: — nein! — das ist nur wieder mein falscher Idealismus, den ich in die Leute hineinprojiziere, das ist im Letzten alles viel primitiver: — Instinkt der Arterhaltung — Massensuggestion — Zwang — Kampfgelüste, auf die Tradition unserer Väter hinweisend. — Was versteht denn eigentlich die breite Menge vom Ideal? Wieviel Prozent von denen, die jetzt draußen stehen, haben überhaupt das Wort „Ideal“ in ihrem Lebensprogramm?
Wieviele haben auch nur die leiseste Fühlung zu dem heiligen Streben eines Menschen, dessen ganzes Sein nur ein ewiges Suchen der Verwirklichung des Ideals in der ideallosen Wirklichkeit ist! So sitzt er skeptisch herum, liest Zeitungen und Kriegsdepeschen, die Ereignisse strömen über ihn hinweg — er fühlt sich aus der Mitte herausgestoßen und im tiefsten seines Wesens entfremdet und verwirrt. Und eines frühen Morgens, während es draußen dämmert und eintöniger Regen gegen die Scheiben rieselt, da schreckt er aus dem Schlafe empor, er hört wie schon oftmals schwere rhythmische Schritte an seinem Hause vorüberziehen und eine Stimme singt langsam verhallend: in der Heimat – in der Heimat … da gibt’s ein Wiedersehn.
Im selben Momente wird ihm bewußt: — das ist ja immer noch die eine, die gleiche Stimme, die seit vielen Wochen das gleiche einfache Lied vorüberträgt! – die gleiche Stimme, die immer wieder aus andern jungen Kehlen dringt und deren einstiger Ton nur Gott weiß wo und wie in Qual verstummt ist.
Er stürzt ans Fenster und lehnt sich hinaus und vernimmt noch wie ein Echo in der Ferne: … es gibt ein Wiedersehn …
Plötzlich ist es, wie wenn seine eigene Not von ihm wegsinkt, vor ihm ersteht die klare Erkenntnis und er begreift:
Was die Menschen heute alle eint, ist – Das Ideal.
Was mich von den Menschen allen trennt, sind meine privaten Ideale.
Ich habe mich von dem Einheitsideale losgelöst und meine eigenen Wünsche, meinen eigenen Glauben und meine eigene Sehnsucht vereinsamt dem Leben entgegengetragen.
An jeder Straßenecke wartete ich mit meinen Idealen wie ein Hausierer, wartete auf den Partner, der Verständnis für meine Ideale hatte. Ruhelos irrte ich suchend einher und Allen und Allem bot ich wahllos meine Ideale feil.
Bis ich heimkam — erledigt, krank — und mir nur noch der Revolver blieb und das Ideal nicht einmal mehr langte, um ihn abzudrücken.
Und darum stehe ich Lebensmüder hier und lebe und sie, die Lebensstarken ziehen hinaus und sterben, weil die gesunden Lebensbejahenden, auch die instinktmäßigen Kämpfer für die ewig neuen, lebensstarken Generationen sind.
Die enttäuschten Idealisten jedoch, reduzierten mit ihrer kranken Seele ihren Leib, Schopenhauers Lehre lag wie ein Schatten der Verneinung über ihrer Kraft und dauernd militäruntauglich stand in ihrem Paß.
Ganze Schichten der Besten, Hochkulitiviertesten kannten nur noch den Mut der Einseitigkeit, ihr Ideal war dem Untergange verfallen, weil sie ihr eigenes Glück und ihr eigenes Ziel von dem Glücke und dem Ziel der Allgemeinheit trennten.
Die großen Massen des Volkes aber hatten noch nicht die Zeit gehabt, ihr Ideal in der Phantasie zu verbrauchen, sie waren noch ursprüngliche, vitale Teile des gewaltigen Triebwerks des Lebens. Und da die Nation in ihrer Schicksalsstunde alle elementaren Kräfte des Volkes fordert, ersteht auch die junge, die unverbrauchte Kraft zum Ideal im Volke, das Volk tritt ein in — Das Ideal — die Menschen fliehen begeistert zueinander und einen sich als lebende Mauer zum Schutze ihres Heimatlands.
In: März, 1915 Band 9, Ausgabe 2, Seite 58/9