Catherina Godwin: Warten

 

Warten

Von Catherina Godwin

Heute – heute endlich!

Fünf Monate hatte sie ihn nicht gesehen – Lissy erschien es plötzlich unfaßlich, daß sie Tag um Tag verbracht – so viele Wochen – fern von ihm. Sie arrangierte abermals den langgestielten Flieder in der hohen Vase, sah ungeduldig nach der Bronzeuhr, die auf dem Schreibtisch stand. Ein Viertel vor 7 Uhr – noch fünfzehn Minuten – –

vielleicht kam er schon etwas früher —

Seit 6 Uhr war sie allein, die Jungfer hatte bereitwilligst Ausgang zum Schützenfest erhalten. Draußen sangen Vögel in den Bäumen — Sonne fiel in queren Streifen durch heruntergelassene Jalousien – sommerliche Schwüle lastete im Raum.

Die junge Frau ging hin und her … immer hin und her. Ruhe, sagte sie sich, Ruhe, es ist ja noch viel zu früh – nahm gehorsam auf dem breiten Ledersofa Platz.

Der Flieder duftete stark.

Fünf Monate? Wo blieben sie denn? lebte sie nicht alle die Zeit nur dem Vergangenen und Kommenden?

… in Erinnerung an ihn –

… in Erwartung auf ihn …

während die Gegenwart teilnahmslos an ihr zerglitt?

Und jetzt, in wenigen Momenten, mußte alle Erwartung an die Zukunft sich erfüllen – – durch diese Tür mußte er nahen – über diese Schwelle schreiten, auf diesem Sofa sitzen – neben ihr – ganz dicht neben ihr – in wenigen Momenten.

Wie lange hatte sie hier gewartet? erst drei Minuten?

Sie schaute immerwährend nach dem kleinen goldenen Zeiger, der unmerklich – langsam – – langsam – – vorwärtskroch. Er bewegt sich gar nicht, dachte Lissy… die Zeit steht still…. schaute immerwährend nach dem kleinen goldenen Zeiger 7 Uhr.

Jetzt! Jeden Augenblick!!

Ihre Hand griff nervös zur Abendzeitung – die Heeresvorlage in der Kommission – –

die Heeresvorlage

in der Kommission die Heeresvorlage –

Zwei Minuten über 7… aber ihre Uhr ging eine halbe Minute vor.

Die Heeresvorlage in der Kommission (Privat-Telegr.). Die Budgetkommission des Reichstags setzte heute die Beratung der Heeresvorlage beim Paragraph des Reichsmilitärgesetzes fort, der in der neuen Fassung bestimmt:

Das Gebiet des Deutschen Reiches

Das Gebiet des Deutschen Reiches

Das Gebiet des Deutschen Reiches

Sie schob das Blatt beiseite, schritt zum Spiegel — schritt zum Tisch.

Wieder zum Spiegel –

Ordnete eine Locke –– ob ihm wohl meine neue Frisur gefällt? –

– das Gebiet des Deutschen Reiches – –

Es ist ja nicht zum aushalten – es ist ja zum ersticken schwül, fühlte sie – wahrscheinlich kommt gleich ein Gewitter.

Trat zum Fenster, zog die Jalousie hoch.

Der Himmel dehnte sich wolkenlos. Friedlich ruhten die Parkanlagen im späten Sonnenschein. Zwei gleichgekleidete Mädchen mit blauen Kleidern und Rosenhüten gingen vorüber. –

Schwestern – überlegte die Wartende, vielleicht Zwillinge.

Eine wandte sich und rief: „Pussy, Pussy!” Aus dem Gebüsch sprang lustig ein junger Pinscher hervor. Lissys Atem stockte — dort entfernt der Herr in Schwarz — sie trat sofort hinter die andere geschlossene Jalousie.

Wenn er sie erkannt hätte! Töricht, daß sie überhaupt hinausgesehen –
— der Schwarze näherte sich, schon war er gegenüber dem Fenster – –

ein untersetzter rotnasiger Bürger, der gemächlich, die Zigarre im Mundwinkel, vorbeistolzierte.

Lächerlich, denda und Ihn zu verwechseln!

Draußen schlug es einmal. Das akademische Viertel — jetzt jeden Augenblick! Einfach lächerlich, ihre Aufregung! Nachdem sie so viele Monate gewartet, sollte sie diese paar Minuten nicht?

Sie mußte etwas vornehmen… blickte sich hilflos suchend um – ging zum Flügel, spielte ein paar Akkorde – – – dann überhörte sie am Ende sein Läuten – ging zum Schreibtisch, nahm aus der Briefmappe nochmals sein Telegramm – las wieder: „Bitte mich gegen 7 Uhr erwarten. Herzlichst H.“

Nun ja.
Gegen 7 Uhr.

Da konnte er schließlich gerade fo gut um 1/2 8 oder etwas später … Irgendwo übte jemand bei offenem Fenster Klavier. Was war es doch gleich? Sie summte die Melodie, solch bekannte Sache – aber freilich – zu dumm, daß ihr das nicht einfiel! – nur schlecht im Rhythmus – –

… Harry fuhr doch prinzipiell nicht Droschke …

Das brauchte sie doch wirklich nicht zu kümmern, was jene klimperte – sie horchte auf – ein Wagen – er fuhr vorüber – eintönig tapften die Hufe – immer gegen den Takt des Klavierspiels.

Die Gipfel der Bäume regten sich leise gegen den blauen Abendhimmel.

Komm ! Komm endlich — flüsterte sie gequält in die Stille und dehnte die Arme. Der Klavierspieler machte einen Fehler — nun blieb er stecken.

— Aber natürlich Rhapsodie von Liszt! Wenn man an der Stelle nicht mit dem vierten Finger übersetzte, verhaperte man sich unbedingt.

… Wäre es denn möglich ?

Nein, unmöglich, ausgeschlossen — er hätte sie sicher benachrichtigt.

Ganz sicher.

Bei seinen Verwandten antelephonieren? – Nein – die schöpften gleich Verdacht. Sollte sie sich vielleicht im Datum geirrt – – –

Nein, nein, das Datum stimmte.

Es war ja ohnedies erst 1/2 8 Uhr.

Irrsinn, sich so aufzuregen, er kam bestimmt! Sofort mußte er hier sein. –

Gegenüber in den Anlagen, auf grün gestrichener Bank, rekelte sich ein kleines Mädchen mit schmudeliger Schürze, schluzte an einem Bonbon und dudelte was vor sich hin, dann nahm es das Bonbon aus dem Munde, schaute wohlgefällig darauf – schluzte wieder daran, schaute wieder darauf – schob es ganz in den Mund und wischte die Hände am Kleide ab.

Die Kinderzeit erstand –– da sie heimlich während der Schulstunde Fruchtbonbons aß und einmal mit solch großem Bonbon im Munde ein Gedicht hersagte … das hatte ihr und ihren Freundinnen riesig imponiert und das gute Fräulein Häberle war wirklich auf die geschwollenen Mandeln hereingefallen. Na, überhaupt das Fräulein Häberle hatten sie was geärgert – Lissy beobachtete, wie ihre Schritte lautlos schienen, wenn sie am Teppich ging und hallten, wenn sie zum Parkett trat.

Früher wurde so gespielt: Man durfte keine Ritze des Trottoirs betreten – über die Ritzen mußte man springen – manchmal den ganzen Schulweg entlang – –

und es gab auch noch ein anderes sehr beliebtes Spiel, da mußte man auf einem Bein hüpfend Steine in numerierte Abteilungen vorwärts stoßen – Hippemann hieß das.

Schmale Wolkenstreifenschimmerten rötlich durch belaubte Zweige. –
Die Sonne geht unter, dachte die junge Frau –

Und dann sah sie die Lutschbonbons vor sich, große runde … im Zentrum mit Blumen – und einem rötlichen Punkt und solche, die ein Karo zierten und Tupfen und wieder andere, die dreieckig waren und nach Pfefferminz schmeckten.

In: Süddeutsche Monatshefte, 1914, Band 11,Teil 1, Seite 558

Author: Andreas Schüler

Geboren 1970 · Aufgewachsen in Nordhessen · Studium in Frankfurt und Halle · Lebt und arbetet in Berlin · Stationen als Ghostwriter, Konzepter, Art Director, Onlineredakteur, Creative Director, Head of Content, Head of Marketing. Vater von zwei Söhnen.

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