Zwei kurze Geschichten von Catherina Godwin

Zwei kurze Geschichten

Von Catherina Godwin

SPAZIERGANG

Ein junges Paar ging über eine blumige Sommerwiese. Sie kamen an einen schmalen Bach, wo in durchsichtigem Wasser viele muntere Fische schwammen.
Da sagte der junge Mann: sieh nur die vielen munteren Fischlein! –
Das junge Mädchen aber mußte auf ein totes Fischlein schauen, dessen Leib blaß und reglos am Rande des Baches lag.

Sie gingen weiter und kamen an einen großen Garten, wo viele fröhliche Menschen, essend und trinkend um Tische saßen.
Da sagte der junge Mann: sieh nur die vielen lustigen Leute! –
Das junge Mädchen aber mußte auf einen bettelnden Krüppel schauen, der einsam am staubigen Wegrand hockte.

Sie gingen weiter und kamen an eine breite Allee, in der viele elegante Wagen spazieren fuhren.
Da sagte der junge Mann: sieh nur die vielen schönen Pferde! —
Das junge Mädchen aber mußte auf einen mageren Droschkengaul schauen, der von der Peitsche getrieben, steifbeinig vorübertrottete.
Und sie dachte traurig: ich sehe nur den Schatten — ich fühle nur das Unglück — ich weiß nur den Tod.

Da faßte er ihre Hand, blickte ihr liebend in die Augen und sprach: du meine Sonne! Du mein Glück! Du mein Leben! —


 Die Apotheose des Johannes ::: Aubrey Beardsley

Die Apotheose des Johannes ::: Aubrey Beardsley


STREIK

Draußen weht Wind. Er rüttelt an den Kleidern der Leute. Ich schaue hinaus und denke: wenn ich nun ausgehe — wird der Wind auch meine Kleider bewegen? — Ein Baum im Garten nickt getrieben vom Sturm und neigt wild bejahend seine Krone herab.

Warum dann fühle ich mich so allein, da doch Weltgesetze uns alle verbrüdern, warum befremdet und erstaunt es mich wie ein Wunder, daß Selbstverständliches sich selbstverständlich auch an mir vollzieht?

Warum quält mich die Erkenntnis, daß ich verflucht zum Plural bin?

Warum halte ich naiv und gläubig den Finger in die Flamme eines brennenden Streichholzes und erschrecke, daß es auch mich versengt?

Warum blicke ich als staunender Outsider auf meinen Leib, der bei den Schwankungen der Eisenbahn genauso vibriert, wie die Leiber der andern?

Mit welchem Recht habe ich die Arroganz, mich heimatlos und isoliert im All zu fühlen, da ich an allem reagiere genau wie Alle?

Mit welchem Rechte träume ich, daß ich immun am Dasein bin?

Ich werde wohl bald durch das offene Fenster hinaus in die freie Luft mich geleiten, um im Gesetz der Schwerkraft mich endgültig zum Plural zu bekehren.

(In: März, Jg. 1914, Bd. 8, Heft 2, Seiten 775-7. Langen, München 1914)

Author: Andreas Schüler

Geboren 1970 · Aufgewachsen in Nordhessen · Studium in Frankfurt und Halle · Lebt und arbetet in Berlin · Stationen als Ghostwriter, Konzepter, Art Director, Onlineredakteur, Creative Director, Head of Content, Head of Marketing. Vater von zwei Söhnen.

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