Catherina Godwin: Die Mode im Gefühlsleben

 

 

Die Mode im Gefühlsleben

von Catherina Godwin

Gefühle, so glauben wir, müssten international sein, sie müssten über alles Zeitliche hinüber die Brücke in alle Zeiten sein. Doch sind die Gefühle bei den Völkern und ihren Kasten von den wechselnden Sitten gefärbt, von der schwankenden Moralauffassung beeinflusst, sie variieren in ihrem herrschenden Ausdruck, um es kurz zu sagen: auch sie sind der Mode unterworfen. Allerdings sind die Gefühle in ihrem tiefsten Grunde unwandelbar; knüpfen sie doch an des Menschen Triebe und an seinem Instinkt an. Aber sie sind von der Zivilisation gebändigt, von deren Gesetzen verfälscht und verarmt, sie sind in ihrer Ursprünglichkeit gehemmt und in ihrer Grundfarbe oftmals nicht mehr erkenntlich.

Der Mensch wird durch seine Umgebung bestimmt, und seine Gefühlswelt wird durch die Aussenwelt beeinflusst. Kaum einer vermag sich so vollkommen dem herrschenden Rhythmus zu wiedersetzen, dass er nicht auch ein wenig von der jeweils herrschenden Gefühlsmode infiziert sei. Stehen doch alle Empfindungen in einem verborgenen Einklang mit ihrer Zeit, Gefühle, Kleidung, Stil bilden ein Ganzes im Gesamtbild der Kulturepochen. Untersuchen wird die dominierende Empfindungsart des modernen Menschen, so erkennen wir eine seltsame Mischung Übersensitivität und Empfindungslosigkeit. Wir dürfen getrost behaupten, dass der Mensch von heute ein Einsamer ist, weil die herrschende Gefühlsmode es verbietet, die Gefühle zu zeigen. Darum leidet jeder an seinem Gefühl und lässt die anderen an seiner Gefühlslosigkeit leiden.

Innigkeit der Empfindung wirkt veraltet und unmodern. Das Jahrhundert der Eile fordert in seiner Hast auch das Durchhasten der Erlebnisse, das Hintersichlassen des Gewesenen, das Greifen nach dem immer wieder – Neuen. Einst schätzte man Vergissmeinnichtranken, man liebte die zärtlichen Symbole der Treue. Heute schätzt man nur die glatte Fassade. Unsere Zeit stellt Schein vor Wahrheit, Zweck vor Sinn und Wirkung vor Wert. Goethe konnte mit seinem „Werther“ Karriere in aller Liebenden Herzen machen. Ein sentimentaler Werther gälte mit seinem Leiden heute nicht mehr für schick. Der moderne Mensch aber will vor allem schick sein, er will apart sein, er liebt die individuelle Prägung, und er prägt allenthalben die Schablone der „Persönlichkeit“. Das lehrt ihn seinen Mitmenschen verachten, und er verschwendet seine Hochachtung nur noch an sich selbst. Das Individuell-sein-wollen ist eine universelle Moderichtung, die sich heute bei allen Völkern und dem breiten Volke spiegelt; jeder ist bereit, sich als Herrscher zu krönen, jeder proklamiert sein eigenes Ich.

Unserer Zeit fehlt das Pflichtgefühl der Gefühle; seit zwei Jahrzehnten lebt die Bühne vom Ehebruch, Scheidungen sind an der Tagesordnung, man verlächelt den Betrogenen und applaudiert dem Betrüger. Sieger im Heute ist der, der, unbeschwert von eigenen Gefühlen, sich als der Blasierte erkennt. Der Blasierte thront auf jedem Reklamebilde, er ruht sich aus und ruht unseren Blick aus; sein Tagewerk ist, sich für seinen Schneider oder seinen Sektlieferanten oder Zigarettenfabrikanten plakatieren zu lassen. Immerhin ist der Blasierte der sichere Pol in dem spielerischen Wirbel der Empfindungen, ja, vielleicht ist er es, der nach einer Pause der Verneinung sich zuerst wieder zur Bejahung wahrer Gefühle aufrafft. man darf den modernen Typus nicht unterschätzen: er verrät die Wärme seiner Empfindung an die Kühle seiner Gebärde, und er ist zweifellos dekorativ. Der Verlust grosser Empfindungen wird in unserer Gegenwart durch den Mangel an grosser moderner Architektur symbolisiert, es ist heute die Stunde der Innen-Architekten, der Kunstgewerbler, der Analytiker, der Spezialisten, der Detaillisten, und nirgends bekundet sich der Sinn für die Synthese.

Es ist so. Durch die verlorenen oder, besser gesagt, verleugneten Gefühle verarmt auch der Geist, der aus allem nur noch den klingenden Profit zu schlagen sucht, und wir sind darum rein kaufmännisch orientiert. Wohl behaupten wir mit Recht, dass man heute keine Gefühle mehr haben darf; aber unsere Zeit musste werden wie sie ist, weil sie ihr Gefühlsleben seit langem verriet. Selbst die lauten Schreie nach Gemeinsamkeit und das heftige Aufflackern des Patriotismus können uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass es um Reaktionserscheinungen der Masse handelt, in der dennoch einer an dem anderen erfriert. Erst wenn diese Epoche sich übersteigert und überlebt hat, wird ganz von selbst der Umschwung nahen. Eines Tages – man wird kaum begreifen wieso – werden wieder, wie schon einst, die grossen Gefühle die grosse Mode sein. man wird eine neue Gefühlsära eröffnen, genau wie einen neuen Modesalon; man wird eine neue Richtung preisen, wenn man auch an das Alte zurückgreift. Glückliche Ehen, alle guten und schönen Dinge einer versunkenen Vergangenheit werden wieder gangbar sein, und der Dichter wird die Liebe wiederum besingen.

Vielleicht ist der moderne Verräter im Grunde schon bereit, sich selbst zu verraten, und was er heute als unschick verleugnet, ist er morgen gewillt, als das Vorrecht seiner Eleganz zu gestehen. Vielleicht wird es Morgen der grosse Schick sein, gut und anständig zu handeln, Treue an sich und den anderen zu üben, und wird das, was wir im Heute verloren, uns morgen von der neuen Mode der Gefühle überreich zurückgegeben sein.

Author: Andreas Schüler

Geboren 1970 · Aufgewachsen in Nordhessen · Studium in Frankfurt und Halle · Lebt und arbetet in Berlin · Stationen als Ghostwriter, Konzepter, Art Director, Onlineredakteur, Creative Director, Head of Content, Head of Marketing. Vater von zwei Söhnen.

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