Die Haarnadel
Von Catherina Godwin
Eine junge Frau ging manchmal zu einem jungen Manne, denn sie liebte ihn. Sie liebte ihn sehr — jedoch sie trafen sich nur etwa alle acht Tage für ein paar Stunden, er hatte nämlich sehr viel zu tun, sehr viel gesellschaftliche Verpflichtungen und Rücksichten gegen seine Familie zu nehmen. Eigentlich lebte sie nur noch für den Moment, wo sie bei ihm sein durfte. In der Zwischenzeit wartete sie —
Ich bin sehr glücklich — dachte sie oft und weinte dabei. Ihr Glück konzentrierte sich hauptsächlich in einer Ecke seines großen Ateliers, wo auf breiter Ottomane viele weiche seidene bunte Kissen, gegen die türkische Verkleidung der Mauer ruhten. Da sagte er oft flüsternd schöne kurze Sätze zu ihr: z.B. … nur Du — — — Besondere …… Wenn Du fort bist, atme ich sehnsuchtsvoll den Duft Deines Körpers aus diesen Kissen … wir gehören zusammen …
… Meine Welt bist Du …
Es lag ein seltener Klang von Wahrheit und Überzeugung in seiner Stimme.
Und sie glaubte ihm —
* * *
Einmal — als sie von ihm kam — bemerkte sie, daß ihr Perlenhalsband fehlte. Sie ging sogleich wieder zurück, schellte — aber es machte niemand auf. Dann läutete sie bei der Hausmeisterin, die das Aufräumen seiner Wohnung besorgte. Die Hausmeisterin hörte mit diskret, verständnisinnigem Kopfnicken zu und geleitete die Dame hinauf in seine Wohnung.
Die breite Ottomane wurde zur Seite geschoben, der türkische Teppich ausgeschüttelt — die vielen bunten weichen Seidenkissen durchstöbert. Es fand sich aber nichts. Nur ganz versteckt unter den untersten Kissen, lagen zwei Haarnadeln.
Die eine war solch glatte schwarze Stahlnadel, wie die junge Frau sie immer trug, die andere war eine etwas größere mit einem gewellten Einbug in der Mitte, wie die junge Frau sie niemals trug —
Darauf vergaß sie plötzlich ihr Perlenkollier, gab der diskret-verständnisinningen Hausmeisterin 3 Mark, die: – aber nein doch, aber nein doch – sagte und das Geld einsteckte, während die junge Frau, – die beiden Haarnadeln krampfhaft in der Hand haltend – mit bebenden Knieen die Treppen hinabschritt.
* * *
Während sechs Tagen saß sie fast immer bei der fremden Haarnadel. Saß still trauernd davor, wie vor einem Grabe. Hörte das Grammophon seiner Worte dauernd in ihrem Hirn: … nur Du … Besondere … wenn Du fort bist, atme ich den Duft Deines Körpers …
— Es ist die große Lüge — fühlte sie. Es ist nun alles anders — alles aus —
— —
Ich werde nie mehr zu ihm gehen. Ich werde nie mehr auf ihn warten –– — nie mehr — ich werde — nie — mehr — seiner Lüge, lauschen —
—
Es ist nun alles tot —
Aber am siebenten Tage kam ein Brief von ihm, darin stand:
Ich erwarte Dich heute Abend 8 1/2 Uhr, Du Einzige — P.S. — Dein Perlenkollier hat sich hier gefunden.
Sie zerriß das Schreiben. Ging zum Schreibtisch — las nochmals seine vielen Briefe und verbrannte sie.
Ihr schien, als versänke ihr Leben ohne Ziel und Zweck.
— Es ist nun alles aus, wiederholte sie matt.
Doch als es langsam dunkelte — dachte sie in plötzlichem Schrecken: Wieso ist denn alles aus?
? Warum?
Was ist aus? und was ist anders?
— es hat sich ja nichts geändert — nichts — — es war aus — schon zuvor — vielleicht schon lange zuvor — vielleicht schon immer — nur ich wußte es nicht. Es ist ja alles wie bisher! es kann alles bleiben wie bisher!! ich brauche ihn jetzt nicht zu verlieren, denn ich habe ihn ja schon längst verloren — —
— er darf nur nicht ahnen, daß ich es weiß.
— Sie kleidete sich in hastiger Erregung an, kämmte sich sehr schön und befestigte die fremde gewellte Haarnadel in ihrer eigenen Frisur.
Später beim matten Scheine der Ampel schob sie heimlich die fremde Nadel wieder unter das unterste Seidenkissen der breiten Ottomane. —
(In: März – Eine Wochenschrift. Jg. 8, Heft 1, 1913, S. 58 ff.)