Catherina Godwin: Der Tanz in der modernen Zeit

Isadora Duncan

Reaktionserscheinung gegenüber der Steifheit des Balletts

 

DER TANZ IN DER MODERNEN ZEIT

von Catherina Godwin

Als die Tänzerin Isadora Duncan wie eine Reaktionserscheinung gegenüber der Steifheit des Balletts auftauchte, verblüffte die Freiheit ihrer Bewegungen und die Nacktheit ihrer Glieder. Was uns damals als Extravaganz erschien, ist uns heute beim modernen Tanz zum gewohnten Anblick geworden. Es kamen Jüngere, Hübschere, die die gleiche Idee mit größerem Können propagierten, und immer wieder neue Variationen ziehen heute an uns vorbei. Im letzten bedeutete der neue Tanz die Auflehnung der Natur gegenüber der erstarrten Kunstform, es war getanzte Natur, gebändigte Natur, gemeisterte Natur, bewußte Regung und seelischer Ausdruck. So im raschen Uebergang war der Weg von der Natur wieder zurück zur Kunst gefunden, über den Rückweg an das Ursprüngliche ward eine Neubelebung der Tanzkunst erreicht.

Heute bemächtigt auch das Ballett sich schon der „modernen“ Tanzart, und der moderne Solotänzer fordert für sich eine strenge Schulung, die der des Balletts gleichkommt. Man begnügt sich nicht mehr mit dem Anblick jung-beschwingter Glieder, man verlangt Können, Ausdruck, man verlangt Kunst. Fordern wir auch keinen Zehenspitzentanz mehr, so müssen wir doch, falls er wegfällt, das Empfinden haben, als läge in ihm auch dieses Können verborgen, wenn auch als ein Ueberwundenes. Es ist erstaunlich zu beobachten, daß in unserer Zeit gesteigerter Mechanisierung die Loslösung von der mechanischen Kunstform allenthalben fühlbar wird. Die Kunst zerbricht die erstarrten Formen in gleichem Maße, als der Alltag die Erstarrung des Lebendigen für sich in Anspruch nimmt. Irgendwie drängen alle in einer Richtung übersteigerten Daseinsformen nach ihrem Gegensatz, um das nötige Gleichgewicht wiederherzustellen.

Betrachten wir von diesem Standpunkte aus die heutige Tanzsucht, die allenthalben im modernen Europa mit der Kriegsepoche zusammenfällt, so ist es wohl nicht die Freude des Siegers, oder der Galgenhumor des Besiegten, die hier zum Ausdruck kommen; hier ist nicht getanzte Freude und getanzter Schmerz, nein: hier ist die Reaktionserscheinung gegenüber den in gerade Reihen gespannten Truppen, gegenüber dem Marsch, dem Aufmarsch. Der einsam eine, neben dem anderen zu Pflicht und Kampf aufgebaute Mann bedingt als Reaktionserscheinung das Paar: Mann und Frau, gelöst aus der starren Linie und im Kreise bewegt. Hier Hinwendung an Kampf, dort Hinwendung an Leben. Solche Erkenntnissse fordern eine perspektivische Einstellung zur eigenen Gegenwart, denn sie sind im einzelnen gar nicht zu erkennen und nur als Gesamtaspekt zu deuten. Wie überhaupt alle historischen Deutungen von uns die Distanz verlangen. Wagen wir es trotzdem, uns den gegenwärtigen Erscheinungsformen der Kunst, schon als der Gegenwart entfernt, kritisch gegenüberzustellen, so geschieht es aus dem Wissen, daß alle wahre Kunst aus dem Zeitlosen empfangen ist, wenngleich sie auch von ihrer Zeit geprägt wird. Typisch ist, daß in seinem Beginn der moderne Tanz nur ein Solotanz war, hier schien der Wille ausgedrückt, die Einzahl über die Vielzahl hinauszustellen, das Persönliche, oder richtiger gesagt, die Persönlichkeit in den Vordergrund zu rücken. Wenn wir dem Wesen des modernen Tanzes noch gründlicher nachspüren, so erkennen wir, daß er die eigentliche Anwendung von dem „Modernen“ erstrebt und seine letzte Sehnsucht nach der Antike geht. Schon die Art, wie der moderne Solotänzer sich in Szene setzt, wie er seine Gestalt in den Raum stellt — der meist einfarbige, glatte Hintergrund, ohne die Andeutung einer Ferne und Kulisse — beweist die Anlehnung an die Antike, die die Gestalten isoliert in den Vordergrund baut und somit die Konzentrierung auf den Körper allein bedingt. Und dennoch ist es ausgeschlossen, daß wir uns wieder dem antiken Vorbild nähern werden, trotz aller Tanzschulen, trotz aller Körperkultur. Jahrtausende liegen zwischen dem Einst und Jetzt; es ist nicht mehr das Spiel der Körper, nicht mehr das Spiel der Muskeln, das zum Ausdruck drängt, es ist die Vermittlung des seelischen Ausdrucks durch die rhythmische Gebärde. Daß hier die Seele im Vordergrund steht und nicht der Körper, beweist die Tendenz, nicht den reifen, vollen Frauenkörper im Tanze herauszustellen, sondern den schlanken, knospenden Mädchenleib, ja, das Erwachen, wo der Körper noch gleichsam die Geburt der bewußtwerdenden Seele symbolisiert. Die Bewegungen blühen und tragen die Reife in sich; nicht die Plastik des Fleisches wird verkörpert, sondern die Bewegtheit der Seele wird plastisch.

So begreifen wir, daß der moderne Tanz wohl die Sehnsucht nach der Antike kennt, aber grundwesentlich von ihr verschieden ist, da die Antike ihren Gestalten die Seele geflissentlich entriß; im modernen Tanz aber ist der Körper beseelt, ist die Seele verkörpert. Daß der moderne Europäer in dem modernen Tanz das Ursprüngliche, Triebhafte suchte, erkennen wir in den modernen Gesellschaftstänzen. Unser moderner Gesellschaftstanz ist vor allem beherrscht vom Rhythmus, nicht zuletzt vom Gegenrhythmus, ja die Klänge eines Tango wirken wie eine Auflehnung gegen den herrschenden Rhythmus und das beschleunigte Tempo der Zeit. Es ist, als ob der Mensch sich in Opposition gegen sich selbst winde, und wenn der Rhythmus unserer Zeit stimmen würde, könnten die Menschen sich nicht allerorten in dieser epidemisch gesteigerten Weise im Gegenrhythmus bewegen. Aus der Perspektive erschaut, sind diese fanatisch tanzenden Menschen von einer tieferen Strömung erfaßt, die nun an der Oberfläche als Ahnungslose ihres wahren, eigentlichen Ausdrucks kreisen. Zweifellos: die Masse tanzt nicht, sie wird getanzt.

(Prager Tagblatt, Jg. 48, No. 49, 1. März 1923, Seite 4)

Author: Andreas Schüler

Geboren 1970 · Aufgewachsen in Nordhessen · Studium in Frankfurt und Halle · Lebt und arbetet in Berlin · Stationen als Ghostwriter, Konzepter, Art Director, Onlineredakteur, Creative Director, Head of Content, Head of Marketing. Vater von zwei Söhnen.

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