Das „Große Bestiarium der deutschen Literatur“
Es war sicher eines der außergewöhnlichsten literaturgeschichtlichen Werke in meinem Bestand, und in diesem Einband sowie mit diesen Illustrationen ein bibliophiler Leckerbissen, von dem ich mich schwer trennen konnte: Franz Bleis „Großes Bestiarium der deutschen Literatur“, Rowohlt 1922.
Im ‘Zwiebelfisch’ stellt Hans von Weber das Werk seines alten Weggefährten aus ‘Hyperion’-Zeiten wie folgt vor:
„Blei, Franz: Das große Bestiarium der modernen Literatur. (E. Rowohlt Berlin. 253 SS.)
Lieber Trüffelfisch! 1920 machten Sie als Peter Steinhövel das kleine Bestiarium, 1922 das große, 1924 kommt der Literatur-Brehm. Ihre morphologischen Untersuchungen, das halbe Dutzend Vor- und Nachworte, die Grammatik, Quellen, Belustigungen sind hinreißend. Weg mit der Literaturgeschichte! Sie stiften den Bücherfreunden die beste Literaturpasquille seit 100 Jahren. Auf die Schimpfbriefe, die Ihnen die Dichter-Viecher schicken werden, bin ich gespannt. Schicken Sie sie mir für den „Zwf.“, das gäbe eine Extranummer! Ihr Verleger hat seine Sache mit 3 Ausgaben glänzend gemacht. Und dann die handkolorierten Lithos von Heine, Gulbransson, Großmann! Na, ich will nicht schmeicheln, denn die schmeicheln auch nicht! Von Herzen einen zoologischen Gruß! Ihr Sperber.“
Ein besonderer Leckerbissen ist dieses wirklich makellose Exemplar vor dem Hintergrund, dass Franz Blei gerade aufgrund des ‘Bestiariums’ bei den Kulturausschüssen des dritten Reichs nicht eben hoch im Kurs stand.
Der renommierte, in Wien als außerordentlicher Professor Neuere Deutsche Literatur lehrende Germanist Murray G. Hall schreibt dazu
„Obwohl Bleis Bücher nicht politischen Inhalts waren, durften die in Deutschland etwa bei Rowohlt, S. Fischer und Paul List erschienenen Werke nach 1933 weder vom Verlag in seinen Katalogen noch im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel angezeigt werden. Wesentlich zum „Unbeliebtsein“ von Franz Blei und seinem Ausschluss vom deutschen Büchermarkt dürfte seine zuerst 1920 unter einem Pseudonym und dann seine im Jahre 1928 (sic!) bei Rowohlt erschienene Literaturkritik ‘Das große Bestiarium der Literatur’ beigetragen haben. Dieses Werk hat ihm nämlich die Gegnerschaft mehrerer von ihm scharf kritisierter Autoren eingetragen, von denen einige in der Folge in der Reichsschrifttumskammer eine bedeutende Rolle spielten.“
Es wird erlaubt sein, Herrn Hall hier zu korrigieren: 1920 erschien das ‘Bestiarium Literaricum, das ist: Genaue Beschreibung Derer Tiere Des Literarischen Deutschlands’ in kleiner Auflage als Privatdruck bei Carl Ruske in München; Franz Blei verwendete hier das Pseudonym Dr. Peregrin Steinhövel. Das ‘Große Bestiarium’ stellt eine erweiterte Fassung dar, unter anderem enthält es fingierte Vorworte zu vier Auflagen. Es erlebte nach der Erstauflage im Jahr 1922 noch die 6.–8. Auflage 1924 bei Rowohlt in Berlin.
Auch die illustren Illustratoren, die Franz Blei bei seinem satirischen, von Verrissen strotzenden Werk unterstützten, waren dem nationalistischen Mainstream Dornen im Auge: Die Simplicissimus-Größen Olaf Gulbransson, Thomas Theodor Heine und Rudolf Großmann steuerten je sechs lithographierte und handkolorierte Karikaturen bei, in denen die wichtigsten Literaten der Zeit als Tiere dargestellt und ihre wesentlichen Charaktereigenschaften mit teilweise bitterbösem Sarkasmus hervorhoben. Alle drei mussten sich nach der Machtergreifung durch die Nazis ihrer Haut wehren, und einzig Gulbransson gelang es, durch seine zweifelhafte Wandlung zum stoischen Opportunisten weiterhin in Deutschland zu reüssieren, was ihm den Verlust vieler alter Freunde und Weggefährten aus der Blütezeit seiner Politsatire eintrug. So werden denn die 30 Exemplare dieser Vorzugsausgabe wohl nicht vollständig den Nazi-Kulturwächtern und den anschließenden Bombardements entgangen sein.
Franz Blei selbst verzog sich Anfang der 30er Jahre in weiser Voraussicht ins Exil – zunächst nach Spanien und Mallorca, später dann in die USA, wo er 1942 starb.
Vom ‘Großen Bestiarium’ wurden drei verschiedene Ausgaben gedruckt: Ausgabe A auf Van-Geldern-Bütten in 30 numerierten Exemplaren mit je 6 handkolorierten Lithographien von Olaf Gulbransson, Thomas Theodor Heine und Rudolf Großmann von den Künstlern und dem Verfasser signiert; Ausgabe B auf Hadernpapier in 400 nummerierten Exemplaren, ebenfalls mit den Illustrationen; und Ausgabe C auf holzfreiem Papier ohne die Lithographien.
Der Handeinband aus dunkelgrünem Maroquin auf fünf Bünden mit blindgeprägter Deckelvignette ist an der Unterkante des vorderen Innendeckels signiert mit H. Fikentscher, Leipzig. Die 1868 gegründete Buchbinderei war neben Hübel & Denk, E. A. Enders und Sperling eine der herausragenden Großbindereien der einstigen Weltbüchermetropole Leipzig und beschäftigte zu Beginn des 20. Jahrhunderts über 2000 Mitarbeiter. Bis zur Einstellung seines Betriebs im Jahr 2010 unterhielt das seit seiner Vertreibung aus Leipzig in Darmstadt ansässige Traditionsunternehmen eine Abteilung für Handeinbände.
Den Volltext des Buches mit informativen Links zu vielen der von Franz Blei gewürdigten Autoren gibt’s als Online-Version bei gutenberg.org. Übrigens hat Franz Blei unter dem Eintrag Die Godwintrine auch der in diesem Artikel vorgestellten Catherina Godwin ein kleines Denkmal gesetzt.