Seit kurzem macht er sein Recht auf jenen Platz in meinen Regalen geltend, den ich schon lange für ihn reserviert habe: der Hyperion. Von 1908 bis 1910 war die von Franz Blei, Carl Sternheim und Alfred Walter Heymel herausgegebene „Zweimonatsschrift“ das tonangebende Blatt in der deutschen Bibliophilenszene. Dann wurde sie eingestellt. Schade, dass es ihn heute nicht mehr gibt – er zeigt einige Merkmale, die ihn auch heute noch topaktuell erscheinen lassen.
Der Hyperion entstand auf Initiative von Franz Blei, der zunächst gemeinsam mit Carl Sternheim für die Redaktion des Textteils verantwortlich zeichnete und diese Aufgabe ab dem zweiten Jahrgang allein übernahm. Und er löste sie hervorragend: Neben den ersten acht Prosa-Veröffentlichungen des jungen Franz Kafka brachte Blei zahllose weitere Texte literarischer Schwergewichte — teilweise in Erstveröffentlichung, wie beispielsweise im Falle von Rainer Maria Rilke, Robert Musil, Hugo von Hofmannsthal, Hans Carossa oder Heinrich Mann.
Blei hatte von Anfang an kein Magazin für die Massen im Sinn. Wie schon zuvor bei Amethyst und Opale, so verschwendete er auch beim Hyperion keinen Gedanken an die wirtschaftliche Tragfähigkeit des Unternehmens – ihm ging es stets ums Wahre, Schöne, Gute:
„Es war die Absicht, mit dem Hyperion eine Zeitschrift zu schaffen, welche, wie für ihre Zeit Pan und Insel, die schriftstellerischen und künstlerischen Kräfte dieser Zeit in ihren stärksten Formungen vorstellen und späteren Zeiten ein Dokument unseres Wollens und Könnens ist. […] Aus einem erwählten Kreis Schaffender gebildet, wendet sich die Zeitschrift an gleich erwählte Leser, denen die Kunst mehr ist als Sensation oder Bildungsstoff […] Wir wenden uns an die Wenigen nicht freiwillig, wir wollten, es wären viele, die Kunst nicht für Amusement, Dichten nicht für Zeitvertreib, Denken nicht für taubes Kritisieren halten; Doch den Vielen durch ein Vielerlei gefällig zu sein, wie es heute nur möglich wäre, möchte weder mit unserem Berufe sich vertragen noch mit der besonderen Stellung, welche diese Zeitschrift beansprucht, die lieber einseitig scheinen als vielseitig sein will.“
Franz Blei in: ‘Hyperion-Verlag Hans von Weber in München im Jahre 1909’ (Frühjahrskatalog).
Natürlich zog auch der Verleger Hans von Weber beim Hyperion alle Register, um seinem bibliophilen Publikum ein weiteres Paradebeispiel erlesenen Geschmacks zu präsentieren. Für die gestalterische Leitung verpflichtete er Walter Tiemann, der zu diesem Zeitpunkt an der HGB in Leipzig lehrte und gerade mit Carl-Ernst Poeschel die Janus-Presse ins Leben gerufen hatte. Aus Tiemanns Ziehfeder stammt auch das Hyperion-Signet, das auf den Vorderdeckeln prangt. Die auf 1000 Exemplare limitierte Normalausgabe wurde bei Poeschel & Trepte in Leipzig äußerst hochwertig auf bestem englischen Velin gedruckt. Darüber hinaus erschien eine Luxusausgabe von 50 Exemplaren für Subskribenten. Die über den Verlag zu beziehenden Bucheinbanddecken stammten aus den Wiener Werkstätten, neben den Leineneinbänden der abgebildeten Ausgabe waren Ganzlederdecken in geglättetem braunen Maroquin erhältlich.
Das Vergnügen war kein billiges. Glücklicherweise hatte Blei jedoch soeben Carl Sternheim kennengelernt. Der aufstrebende junge Autor stammte aus einem wohlhabenden Elternhaus und stiftete ohne Bedingungen 10.000 Mark aus seinem Privatvermögen, um die aufwändige Publikation ins Rollen zu bringen, was ihm die Nennung als Herausgeber eintrug. Gleichzeitig wurde der Hyperion für ihn zum Karrieresprungbrett: Blei brachte einige Auszüge aus Sternheims unveröffentlichtem Drama Don Juan, das in der Folge Furore machte und Sternheim sehr schnell zu literarischem Ruhm verhalf.
Im Folgejahr verzichtete Carl Sternheim wieder auf die Nennung als Herausgeber. An seiner Statt war nun der Mitbegründer des Insel-Verlags und leitende Herausgeber der Insel, Alfred Walter Heymel, in den Herausgeberkreis aufgenommen. Heymel war fortan für die ausgezeichnete Bildredaktion des Luxusmagazins zuständig. Neben den hochwertig gedruckten Originalgrafiken verschaffte er dem Hyperion eine Vielzahl kongenial zum Text gewählter Illustrationen führender Künstler, die zum großen Teil aus seiner privaten Sammlung stammten, darunter Aristide Maillol, Gustav Klimt, Edouard Manet, Thomas Theodor Heine, Vincent van Gogh, Auguste Rodin, Emil Nolde, Ernst Heckel, Henri Toulouse-Lautrec, Aubrey Beardsley, Ludwig Hofmann, Max Liebermann und Jules Pascin. Auch Heymel steckte erhebliche private Mittel in die Finanzierung des Hyperion.
Franz Blei hatte sich bereits bei den Zeitschriften Insel, Amethyst und Opale als ein mit allen Wassern gewaschener Literaturexperte profiliert. Beim Hyperion gelang es ihm, neben hervorragenden Texten renommierter Autoren auch bislang unbekannten Literaten zur Erstpublikation zu verhelfen. Seine wichtigste Entdeckung war wohl der junge Franz Kafka, der mit acht Prosatexten im Hyperion debütierte.
In der Bohemia widmet Kafka der Zeitschrift, die seinen Erfolg begründen half, im März 1911 einen Nachruf, der den Hyperion sehr genau charakterisiert:
Eine entschlafene Zeitschrift. Die Absicht der Gründer des Hyperion war, mit ihm in jene Lücke des literarischen Zeitschriftenwesens zu treten, die zuerst der Pan erkannt, nach ihm die Insel auszufüllen versucht hatte, und die seitdem scheinbar offenstand. Hier fängt schon der Irrtum des Hyperion an. Freilich hat kaum je eine literarische Zeitschrift edler geirrt. Der Pan brachte zu seiner Zeit über Deutschland die Wohltat eines Schreckens, indem er die wesentlichen zeitgemäßen, aber noch unerkannten Kräfte einigte und durch einander stärkte. Die Insel erschmeichelte sich dort, wo ihr jene äußerste Notwendigkeit fehlte, eine andere, wenn auch niedrigere. Der Hyperion hatte keine. Er sollte denen, die an den Grenzen der Literatur wohnen, eine große lebendige Repräsentation geben; aber sie gebührte jenen nicht, und sie wollten sie im Grunde auch nicht haben.
[Bohemia, Jg. 84, Nr. 78, 19. März 1911]
Tatsächlich dürften die Gründe für die Einstellung des Hyperion andere als nur finanzielle gewesen sein. Die Zeitschrift war eine Idee Franz Bleis, sie lebte von seinem sicheren literarischen Urteil, und er betrachtete sie als sein geistiges Eigentum. Zeitgleich fungierte Blei auch bei den ersten drei Ausgaben des Zwiebelfisch im Jahr 1909 als Herausgeber.
Im Laufe des Jahres gerieten sich Blei und Hans von Weber jedoch in die Haare. Einiges davon beschreibt Blei in seinen Briefen an Dr. Julius Zeitler, anderes fand den Weg in die Öffentlichkeit über den Zwiebelfisch. Das gute Bier war schließlich alle, als Blei in Heft 10 einen Essay Sternheims über Van Gogh brachte, der von einem scharfen Angriff gegen den deutschen Nationalismus eröffnet wurde. Wenn Webern solches widerfuhr, ging’s ihm wider die Natur. Mit einem Beileger zum nächsten Heft stellte er klar, dass der Hyperion-Verlag „für die in dem Artikel von Carl Sternheim “Über Van Gogh” in den ersten Absätzen offenbarte Gesinnung und Ausdrucksform jede Verantwortung ablehnt” (siehe Bild unten). Und wie so oft, landete Hans von Weber auch in diesem Fall vor Gericht. Zwar gelang es den beiden Streithähnen schließlich, sich wieder zusammenzuraufen und außergerichtlich zu einigen – der Hyperion war jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits Geschichte.
1. Dezember 2023
wunderbare Seite zum Hyperion, die Digitalisate im Netz können kaum einen Eindruck vermitteln
3. Dezember 2023
Hallo Herr Frank,
vielen Dank für das freundliche Feedback. Es gibt nicht viele Menschen, die meine Randgruppeninteressen teilen.
Besucher von der LMU sind mir überdies ganz besonders willkommen. Ich erlaube mir, Ihnen in den nächsten Tagen eine Email zu schreiben.
Bibliophile Grüße und einen schönen ersten Advent im Schneechaos
Andreas Schüler