Journalismus im postfaktischen Zeitalter

POPCORN FÜRS KLEINHIRN

Eine Hommage an Sibylle Berg

Die aber in Mären wildern
und wilde Mären bildern
Mit Riegeln und Ketten klirren
Kurze Sinne verwirren
Und Gold von schlechten Sachen
Den Kindern können machen
Die Büchsen schwingen und rütteln
Statt Perlen Staub draus schütteln
Die sind’s …

(Gottfried von Straßburg, Tristan)

Journalistische Qualität und literarische Kompetenz sind doch heutzutage eher gleichgültig. Nicht nur in der postfaktischen, neuerlich auch alternativfaktischen News-Landschaft, sondern gerade auch in den Kolumnen und Feuilletons. Hat doch sowieso keiner mehr wirklich das Bedürfnis, sich intensiv mit dem Zeitgeschehen auseinanderzusetzen – viel zu anstrengend. Genauso wie ordentlich schreiben: Grammatik, Ortographie, Syntax, Konsistenz und Kohärenz. Überflüssig, versteht ja eh keine Sau; also: braucht man sich auch keine Mühe zu geben. Lieber darauf konzentrieren, mit wohlfeilen Mitteln einen auf den ersten Blick erkennbaren Stil durchzuprügeln. Die Büchsen schwingen und rütteln, statt Perlen Staub draus schütteln.

Der Spiegel hat das längst erkannt. Hat sich eine trendige Kolumnistin besorgt und sie in-house zur Edelfeder stilisiert: die Frau Berg, vindaere wilder maere, eine, die viel schreibt, verworrenes Zeug, Stream of Consciousness mit vielen Kommata, angereichert mit unerwarteten Ergänzungen und überraschenden Einwürfen, gerne auch auf Englisch. Stellt sie dabei Fragen? Gibt sie darauf Antworten? Ja und nein. Auf jeden Fall purzeln am Ende des Tages oder des Latte Macchiato wiedererkennbare Texte aus ihrem Macbook Air, schon das fraktionierte Satzbild setzt eine Art visuelle Duftmarke, ein verbalisiertes Corporate Design, die Berg’sche Brand Identity. Macht was her (Eyecandy), nützt dem Netzwerk (Namedropping), ist aber unterm Strich vor allem ganz viel offensichtlich unreflektiertes Gerede (Balderdash). So ein Wortsalat, heavy on the keywords, der einem das Gefühl gibt, politisch und intellektuell in der richtigen Ecke gelandet zu sein, ohne sich gleich mit komplizierten logischen Zusammenhängen auseinandersetzen zu müssen. Hauptsache, der aufmerksamkeitsdefizitäre Leser bekommt die Buzzwords des Tages um die Ohren gehauen und fühlt sich so richtig unique informiert. Popcorn fürs linksliberal-wertkonservative Kolumnenkonsumentenkleinhirn. So machen wir das, heute.

Könnte mir egal sein. Isses aber nicht.

Nun könnte ich mich ja damit begnügen, Frau Bergs Kolumne einfach nicht mehr zu lesen, dem Spiegel den Rücken zu kehren und das Netz nach gehaltvollerer Kost durchstöbern. Aber ich kann nicht: Das Spiegelberg-Phänomen stört meine Seelenruhe. In einer Zeit, in der Fake News als alternative Fakten zu einem wesentlichen Teil das Meinungsbild bestimmen, stehen Journalisten in der Pflicht, Stellung zu beziehen und Dinge klar beim Namen zu nennen. Sibylle Berg gibt auch vor, das zu tun. Zum Beispiel letztens in ihrem flammenden Aufruf Demokratie in Gefahr: Bewegt Euch! So weit, so gut. Man könnte sagen: Toll, die Sibylle Berg will uns aufrütteln, Wege aufzeigen, zur Partizipation ermutigen. Doch dann lesen wir die aufschlussreichen Worte:
 

Es braucht eine Änderung des Finanzsystems. Zauberformel Bitcoin. Und ein bedingungsloses Grundeinkommen, um gegen den Wegfall von 50 Prozent aller Arbeitsplätze gewappnet zu sein. Was man halt so twittert oder seinem Sofa erzählt. Wenn man nicht Che Guevara ist, Rosa Luxemburg oder Sophie Scholl, dann ist, neben wählen zu gehen, der wirkungsvollste Weg, seine Ideen zu verwirklichen, Teil von einer Bewegung zu werden, die wir meist Partei nennen. (…) Demokratie bedeutet, jeder kann an der Gestaltung von Gesetzen und Richtlinien mitarbeiten. Blabla. Es geht sehr einfach. Demonstrationen sind ein netter Weg, seinen Unmut zu bekunden. In Deutschland gingen 1932 einhunderttausend gegen die Politik der NSDAP auf die Straße. Keine Pointe. Der einzige Weg, der mir einfällt, ist, sich in einer Partei seiner Wahl zu engagieren. Die Themen, die verhandelt werden, dort mitzuprägen.

 
Wir erhalten neben reichlich kryptischen Referenzen zu Bitcoin, Rosa Luxemburg et al. den wertvollen Hinweis auf die Wirkungslosigkeit der Demonstrationen gegen die Nazis. Der Einwurf „Keine Pointe“ scheint dem englischen “no point”, also „sinnlos“ entlehnt zu sein. Von „Demokratie in Gefahr – bewegt Euch!“ zu „Der einzige Weg, der mir einfällt, ist, sich in einer Partei seiner Wahl zu engagieren“. Danke, Frau Berg, schaun mer mal. Vielleicht bleibe ich doch lieber auf dem Sofa und glotze Netflix.

Demokratische Teilhabe geht anders. Die USA zeigen, wie.

In den Vereinigten Staaten, dem land of the free and home of the brave, wird uns gerade vor Augen geführt, auf welche Art und Weise jeder einzelne Bürger politisch partizipieren kann: Hunderttausende gehen auf die Straßen, um ein sichtbares Zeichen für ihren Widerstand zu setzen; privatwirtschaftliche Unternehmen wie Starbucks mischen sich ein und schöpfen die Mittel des Marktes aus, um den Anti-Muslimen-Erlass des neuen Oligarchen auszuhebeln; Bürger posten ihre Spendenbeiträge für die ACLU in den sozialen Netzwerken. Staatliche Organisationen wie die Nationalparkverwaltungen schließen sich zusammen, um öffentlichkeitswirksam und effektiv für ihre Ansichten und ihr Demokratieverständnis einzutreten. Alles für die Miezekatze? I don’t think so.

In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass es Alternativen zur parlamentarischen Opposition gibt, mit denen sich durchaus politische Teilerfolge bis hin zu gesamtgesellschaftlichen Veränderungen bewirken lassen. Möglicherweise erinnert sich auch in der Spiegel-Redaktion noch jemand an die Montagsdemonstrationen in der ehemaligen DDR. Oder, wenn’s nicht gleich eine handfeste Revolution sein soll, an die Proteste in Wackersdorf oder Gorleben. An Einsätze von Greenpeace-Aktivisten gegen Walfänger. An kleinere Etappensiege von Bürgerinitiativen gegen den Amtsschimmel. An persönliche Erfolge von Bürgern, die vor dem Verfassungsgericht Recht bekamen. Diese Bezüge herzustellen und im aktuellen Kontext zu beleuchten, würde einem Magazin wie dem Spiegel gut zu Gesicht stehen – besser als das, was Sibylle Berg uns als aufrüttelnden Journalismus verkaufen will.

 

Author: Andreas Schüler

Geboren 1970 · Aufgewachsen in Nordhessen · Studium in Frankfurt und Halle · Lebt und arbetet in Berlin · Stationen als Ghostwriter, Konzepter, Art Director, Onlineredakteur, Creative Director, Head of Content, Head of Marketing. Vater von zwei Söhnen.

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