Bruno Saaler über Catherina Godwin

Über den psychosexuellen Infantilismus,
die Freudsche Lehre und Catherina Godwin.

Von Dr. Bruno Saaler (Berlin), zur Zeit ordinierender Arzt an einem Reservelazarett.

 

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Die Tatsache, daß die Psychoanalyse letzten Endes immer wieder auf sexuelle Faktoren stößt, hat ihr mehr als die ihrer Technik anhängenden Mängel Feindschaft eingetragen. In der Tat kann es keinem Zweifel unterliegen, daß durch kritiklose Anwendung eines bestimmten Schemas oft genug sexuelle Zusammenhänge „aufgedeckt“ werden, die nichts anderes darstellen als ein Hirngespinst des analysierenden Arztes, und so geartete „Forschungsresultate“ sind sicherlich geeignet, der Lehre Freuds mehr Abbruch zu tun, als ihre schärfsten Gegner es vermögen.

Indessen erscheint mir, von Auswüchsen dieser Art abgesehen, der Vorwurf der „Sexualisierung der Wissenschaft“, der der Freudschen Schule gemacht wird, nicht berechtigt. Wem der gestaltende Einfluß der sexuellen Triebkräfte auf die seelische und geistige Entwicklung des Menschen einleuchtet, wird schon aus diesem Grunde sich nicht wundern, wenn er bei der Erforschung des Unbewußten auf sexuelle Faktoren stößt. Vor kurzem hat Nachmansohn1) in überzeugender Weise dargetan, daß die Freudsche Libidotheorie mit der Eroslehre Platos im wesentlichen übereinstimmt. Auch bei Plato entwickelt sich nämlich die Liebe im höheren ethischen Sinne sowohl wie die Liebe zu den Wissenschaften und Künsten nicht anders wie auch die der Gottheit zugewandte Liebe aus dem sinnlichen Eros, Schritt haltend mit der allmählichen Entwicklung des

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1) Nachmansohn, Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroslehre Piatos. Intern. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse. III. Jahrg. Heft 2

 

 

 

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menschlichen Geistes, „der erst allmählich lernt, auch das Seelische als etwas Reales zu erfassen und es dem Eros als Ziel zu setzen.“

Nicht anders gedacht ist ja der Sublimierungsprozeß der „libidinösen Zuschüsse“, die die intellektuellen Energien nach Freud vom Urtrieb empfangen. Nun ist allerdings zuzugeben, daß bei gesunden Individuen der Sublimierungsprozeß im allgemeinen an einem Punkte angelangt ist, der die Herkunft der höheren geistigen Triebkräfte von den niederen nicht mehr erschließen lassen dürfte. Diese Gesunden sind aber in der Regel auch nicht Gegenstand psychoanalytischer Untersuchung. Die ärztliche Psychoanalyse befaßt sich vielmehr lediglich mit den seelischen Vorgängen krankhafter Persönlichkeiten, bei denen auch die Sexualität, wie von niemandem bestritten wird, eine nicht normale ist. Bei der überwiegenden Mehrzahl der hysterischen Weiber vollends ist von Sublimierung wenig oder nichts zu bemerken; ihr gesamtes geistiges Leben steht aus diesem Grunde unter der Herrschaft des ureigentlich Sexuellen, woran auch dann nicht zu zweifeln ist, wenn das Gegenteil der Fall zu sein scheint. Die Frigidität der Hysterischen, die so oft und ohne jede Berechtigung als Beweis für eine Verminderung ihrer libido angeführt wird, bedeutet ja doch nicht Asexualität, sondern lediglich Frigidität gegenüber dem normalen Sexualziel und ist ebenso wie ihre in Wirklichkeit über die Norm gesteigerte libido eine Teilerscheinung des sexuellen Infantilismus, der für die weibliche Hysterie geradezu pathognomonisch genannt werden darf.

Ich bin mit Juliusburger 1) der Ansicht, daß von der Bezeichnung Hysterie überhaupt ganz abgesehen werden könnte. Da tatsächlich in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle von Hysterie ein psychophysischer Infantilismus zugrunde liegt, ist nicht einzusehen, warum diese Tatsache nicht auch in der Krankheitsbezeichnung zum Ausdruck kommen soll, die dann ja auch den Vorteil hätte, von vornherein keinen Zweifel darüber zu lassen, daß das Krankheitsbild durch Erscheinungen der körperlichen und geistigen Unreife gekennzeichnet wird, die sich naturgemäß auch auf das sexuelle Gebiet erstrecken und hier als eine Hemmung auf dem normalen Wege der Entwicklung darbieten muß.

Die Annahme, daß die Sexualität nicht erst in der Pubertätszeit als etwas Neues auftritt, sondern schon im Keime angelegt eine allmähliche Entwicklung durchmacht, die durch die Geschlechtsreife — wie schon der Name besagt — nur ihre Vollendung erfährt, ist allerdings die zwingende Voraussetzung der Lehre vom sexuellen infantilismus. Es wäre kaum verständlich, daß gerade diese Lehren Freuds auf so außerordentlichen Widerstand gestoßen ist, wenn man sich nicht sagen müßte, daß lediglich die weite Fassung, die Freud mit vollem Recht dem Sexualitätsbegriff zuteil werden läßt, von den Gegnern nicht genügend berücksichtigt wird. Tatsächlich glauben viele von denen, die Freuds Lehre bespötteln oder bekämpfen, man wolle, wenn man von der Sexualität des Säuglings spreche, damit zum Ausdruck bringen, der Säugling sei ein in allen sexuellen Perversionen erfahrener Wüstling, während darunter in Wirklichkeit ja nichts anderes verstanden wird als ein ihm selbst völlig unbewußtes Frühstadium der Ent-

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1) Zur Lehre vom psychosexuellen Infantilismus. (Zeitschr. f. Sexualwissensch. I. Bd. 5. Heft.)

 

 

 

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wicklung. Man mag sich übrigens zu den Anschauungen Freuds von den einzelnen Entwicklungsphasen der Sexualität stellen wie man will, die Tatsache ihrer allmählichen Entwicklung an und für sich wird man auf Grund unserer heute festgegründeten Kenntnis des Infantilismus nicht länger bestreiten können.

Unter Zugrundelegung der Freudschen Lehren von der Entwicklung der Sexualität läßt sich von den Erscheinungen des psychosexuellen Infantilismus in kurzen Zügen folgendes Bild entwerfen: In der frühen Phase des „Narzißmus“ bedarf das Individuum zur Befriedigung seiner Libido keines Objektes. Es steht der Außenwelt indifferent gegenüber und benutzt lediglich das eigene Ich als Lustquelle. Später nimmt es Objekte der Außenwelt, soweit sie als Lustquelle dienen können, in sich auf; in diesem Stadium der Entwicklung setzt es den Lustcharakter seines Ichs aber nach wie vor über jeden anderen. Erst nach der Überwindung des Autoerotismus erfolgt die Verknüpfung des Sexualtriebs lediglich mit Objekten der Außenwelt und wird, je reifer er ist, nicht nur um so höhere Anforderungen an die Persönlichkeit des Objektes stellen, sondern auch die Befriedigung in Rücksichtnahme auf das Objekt suchen. Während also der Altruismus das Kennzeichen der reifen Liebe darstellt, läßt die egozentrische Einstellung auf eine unvollendete Entwicklung schließen.

Sexualtriebe, die den Reifeprozeß nicht durchgemacht haben, nennt man „zielgehemmt“. Sie haben in ihrer Entwicklung eine Hemmung oder Ablenkung erfahren; ihr Ziel ist daher nicht mehr das normale Endziel, sondern ein Vorstadium auf dem Wege zu diesem. Dieses Vorstadium, das Freud „Vorlust” nennt, ist mit dem Ziel einer früheren Entwicklungsstufe identisch und daher infantil.

Die Vorlust besitzt eine körperliche und eine psychische Komponente. Hier soll nur von der letzteren die Rede sein. Sie umfaßt die mannigfachen Formen des Liebesspiels und Liebeswerbens mit Einschluß der physiologischen Ansätze zu den psychosexuellen Perversionen (Schau- und Grausamkeitstriebe, auf denen sich Voyeurtum, Exhibitionismus, Sadismus, Masochismus u.a. aufbauen). Bei den zielgehemmten Trieben wird, da das normale Endziel nicht erreicht wird, die Vorlust zur Lust, das Vorstadium zum Endziel und erfährt infolge der Hemmung eine gewaltige Intensitätssteigerung. „Wie ein Strom, dessen Hauptbett verlegt wird, die kollateralen Wege ausfüllt, die bisher vielleicht leer geblieben waren“ (Freud), staut sich die libido und tritt als ins Krankhafte gesteigerte Vorlust in Erscheinung. Die Kennzeichen der unreifen Persönlichkeit in psychosexueller Hinsicht sind also neben dem mehr oder minder ausgeprägten Symptom der Ichbesetzung der libido, neben der egozentrischen Einstellung, der mangelnden Rücksichtnahme auf das Objekt, das nur als Lustquelle dient und je nach Laune und Bedarf durch ein anderes mehr oder weniger geeignetes ersetzt werden kann, der Verzicht auf das normale Endziel oder zum mindesten dessen geringe Bewertung und die erhöhte Freude am erotischen Präludium sowie die Steigerung der physiologischen Ansätze psychosexueller Perversionen ins Krankhafte. Hierzu kommt die hohe Bewertung des Sexuellen an sich und damit in Zusammenhang die geringe oder gänzlich fehlende Sublimierung der libido, die in Anbetracht der gesteigerten Lustbetonung, die infolge der Hemmung den

 

 

 

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infantilen Sexualtrieben zukommt, keinerlei oder nur wenig Energien von der sexuellen Verwendung ableiten und höheren, geistigen Zwecken nutzbar machen kann. Man wird nicht umhin können, zuzugeben, daß die Erscheinungen des psychosexuellen Infantilismus, wie sie hier gekennzeichnet wurden, durchaus mit den Beobachtungen in Einklang stehen, die der Nervenarzt tagtäglich bei der Betrachtung der Persönlichkeit infantiler Frauen zu machen in der Lage ist, und wie sie ja auch von einigen Autoren (Hirschfeld und Burchard, Juliusburger) bereits mitgeteilt worden sind. Nicht anders verhält es sich übrigens mit der Freudschen Lehre von den körperlichen Lustquellen, von denen hier indessen nicht die Rede sein soll1).
Die ärztliche Erkenntnis der minderwertigen psychosexuellen Beschaffenheit des infantilen Weibes stellt übrigens nicht einmal etwas absolut Neues dar; wie stets ist auch hier geniale dichterische Intuition der Wissenschaft vorausgeeilt. Neben Ibsens Hedda Gabler ist hier vor allem der bekannte Strindbergsche Frauentyp zu nennen, in dem die infantile Frau in überraschender Übereinstimmung mit unseren ärztlichen Erfahrungen, naturgetreu bis zu den feinsten psychologischen Einzelheiten verkörpert ist. Ich denke dabei besonders an die Maria der „Beichte eines Toren“, eines Werkes, dem weit über die künstlerisch-literarische und biographische Wertung hinaus Bedeutung für die medizinische Psychologie und die Sexualforschung zukommt.

Was die Ursachen der infantilen Sexualität anbelangt, so sind ebenso wie für den Infantilismus überhaupt die minderwertige Keimanlage und von dieser abhängig Anomalien auf dem Gebiete der inneren Sekretion für sie verantwortlich zu machen. Von der Freudschen Schule wird diese Tatsache zwar nicht bestritten, andererseits aber geltend gemacht, daß die biologische Grundlage einer psychischen Erscheinung uns nicht der Verpflichtung enthebe, ihren psychischen Ursachen nachzugehen. Wenn in der Tat auch zugegeben werden darf, daß die Biologie nur den Unterbau für die psychischen Vorgänge schafft, so darf doch nicht außer acht gelassen werden, daß sie den Richtug gebenden Einfluß ausübt demgegenüber äußere Faktoren von untergeordneter Bedeutung erscheinen. Daraus geht hervor, daß der von Freud sicherlich mit gutem Grund supponierte „Verdrängungsschub” wohl imstande sein mag, die Erscheinungen des sexuellen Infantilismus zu erzeugen, daß aber die Ursachen der Verdrängung wiederum nicht in traumatisch wirkenden sexuellen Erlebnissen, sondern in der durch die Entwicklungshemmung gegebenen Notwendigkeit gesucht werden müssen. Allerdings ist es auch wohl denkbar, daß die endokrinen Anomalien, die als Grundlage der infantilen Sexualität angesehen werden müssen, sich auch bei von Hause aus vollwertigen Individuen unter dem Einfluß psychischer Vorgänge herausbilden können – als Parallele erwähne ich die zahlreichen Fälle von Überfunktion der Schilddrüse, die im Feld infolge schwerer seelischer Erregungen aufgetreten sind –, indessen dürfte es sich hierbei wohl nur um Ausnahmen handeln. Mit den traumatischen sexuellen Erlebnissen junger Mädchen verhält es sich übrigens kaum

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1) In einem Aufsatz: Eine Hysterieanalyse und ihre Lehren (Allgemeine Zeitschrift f. Psych, u. psych.-gerichtl. Medizin, 1912) habe ich diese Frage ausführlich behandelt.

 

 

 

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anders wie mit den körperlichen Traumata der Paralytiker, die in der Zeit, als sie syphilitische Ätiologie der Paralyse noch nicht feststand, so häufig für die Entstehung der Krankheit verantwortlich gemacht wurden, während sie in Wirklichkeit umgekehrt eine Folge der Krankheit, des ersten paralytischen Insults waren. Ebenso sind die traumatischen sexuellen Erlebnisse der Infantilen nicht Ursache, sondern Folge der infantilen Sexualität, sind eine Erscheinung der sexuellen Konstitution, veranlaßt durch Lüsternheit, Sensationsgier und Freude am gefährlichen Spiel. Geht ein solches Spiel anders aus, als erwartet wurde, so ist selbstverständlich seine Bedeutung als psychisches Trauma nicht zu unterschätzen; wer aber annimmt, daß infolgedessen die sexuelle Entwicklung einen Weg gehen würde, den sie andernfalls nicht eingeschlagen hätee, der übersieht, daß die Art und Weise der traumatischen Einwirkung des Erlebnisses in der Regel von der durch die biologische Grundlage gegebenen Richtungslinie abhängig ist. Wenn es also nach alledem auch möglich ist, innerhalb biologisch bedingter psychischer Erscheinungen psychischen Zusammenhängen nachzugehen und sie verständlich zu machen, so besagt dies nichts für ihre gegenseitige kausale Bedingtheit. In der Persistenz der infantilen Sexualität hat man demnach eine durch körperliche Ursachen bedingte Entwicklungshemmung zu sehen, die der Unreife der Gesamtpersönlichkeit in der Regel entspricht und die, wenn auch nicht der psychoanalytischen Untersuchung, do doch der psychoanalytischen Therapie wie überhaupt einstweilen noch 1) jeder Therapie eine nicht überschreitbare Grenze setzt, womit natürlich nichts gegen die Zweckmäßigkeit palliativ wirkender Psychotherapie und anderer Maßnahmen in solchen Fällen gesagt sein soll. Die Bedeutung der infantilen Sexualität für die Neurose ist zwar eine außerordentlich große, aber keine ausschließliche. Die Komplexbildung und die Entstehung psychogener Symptome geschieht unter dem Einfluß von affektbetonten Strebungen, die nicht notwendigerweise sexuellem Gebiet entstammen, wie Juliusburger2) mit Recht betont, auf dem Boden der „primären psychischen Labilität und Dissoziabilität“. Das primär gestörte seelische Gleichgewicht, die infantile Art der geistigen Verarbeitung des Erlebten bietet die Mittel, deren sich die Affekte bedienen, um komplizierte psychogene Symptome zu bilden.

Daß das sexuelle Moment sogar gänzlich bedeutungslos sein kann, sehen wir bei den zahlreichen Kriegshysterien, deren Erscheinung nichtsdestoweniger den gleichen Mechanismen ihre Entstehung verdanken wie die sind, welche wir bei der Symptombildung der Neurosen der weiblichen Infantilen am Werke sehen. Die Fähigkeit psychogene Symptome zu bilden ist somit als eine Erscheinung des Infantilismus und daher ebenso wie die infantile Sexualität als ein Defekt anzusehen. Ich kann indessen der Ansicht Juliusburgers, daß die Infantilen in affektiver und intellektueller Hinsicht Defektmenschen sind, nicht unbedingt beistimmen, wenn sie auch in der Regel zutrifft. Andererseits ist nicht zu

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1) Seitdem durch die Forscherresultate von Steinach, Tandler und Groß gezeigt wurde, daß wir in der interstitiellen Keimdrüsensubstanz das Organ zu sehen haben, von dem der Sexualcharakter des Individuums abhängig ist, können wir Heilung einzig und allein von der Organtherapie erhoffen.

 

 

 

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verkennen, daß die Entwicklungshemmung die einzelnen psychischen Komponenten oft recht ungleichmäßig betrifft, so daß für zahlreiche Varietäten ausreichend Spielraum bleibt. Häufig ist die gemütliche und intellektuelle Sphäre trotz bestehender primärer psychischer Labilität und Dissoziabilität nicht nur nicht defekt, sondern sogar eine den Durchschnitt überragende.

In diesem Zusammenhang erscheint es mir wertvoll, auf eine Schriftstellerin hinzuweisen, deren Werke „Begegnungen mit Mir“ (Hyperionverlag Hans von Weber, 1910) und „Das nackte Herz“ (Albert Langen, München) geradezu als Fundgrube für die Neurosen- und Sexualforschung bezeichnet werden können. Die offenbar mit einer glänzenden Selbstbeobachtungsgabe ausgestattete Verfasserin, Catherina Godwin, von der Kritik als „durchaus kühler Intellekt“, als „differenzierte Frau“ bezeichnet, die eine „fast virtuose Gefühlsakrobatik“ treibe, schildert tatsächlich nichts anderes als die Psychosexualität einer von Hause aus gut veranlagten aber nicht zur sexuellen Reife gelangten und sich ihrer Unreife voll bewußten Frau in künstlerischer Form mit dankenswerter Offenheit und nüchterner, nur zuweilen melancholisch-weltschmerzlich gefärbter Sachlichkeit. Ich kann mir nicht versagen, einige Stellen aus dem „nackten Herz“ als Belege hierfür anzuführen:

Unglückliche Liebe:
„Ewig unbefriedigt kann ich dir ewig alle Treue geben … der Rechte birgt die Verwirklichung unserer Wünsche in sich, also brauche ich den Unrechten … Somit habe ich die Pflicht, unter dem Banne dieses Konträrempfindens den Verkehrten mir zu fesseln und in ihm dauernd den Rechten zu suchen, wissend, daß ich nie den Rechten aus ihm schaffen kann und ahnend, daß dem gut so ist.“ (Erfüllung, also das normale Endziel, wird nicht begehrt; Ziel ist das psycho-erotische Präludium. Erkenntnis der Frigidität!).

Vom Banalen und Komplizierten:
„Meine Liebe zu dir ist eine dressierte Luxusunternehmung, wobei ich mir Hürden auf den Weg lege in der Hetze nach zwecklosem Ziel … Mir imponiert die Leere, der Blick, der auf mir ruht ohne alles Begreifen. Es hat für mich etwas ungemein Autoritäres: der Mann, den ich liebe, sitzt mir gegenüber. Seine Züge sind herrisch, und sein Blick negiert leer und kalt meine Gedanken und Liebe zu Tode.“ (Das primitiv Männliche, das hier als Objekt der Liebe gewählt ist, ist in Wirklichkeit nur das Mittel zur Befriedigung masochistischer Strebungen. Objektwahl unter dem Gesichtspunkt der größtmöglichen Lustquelle für das eigene Ich!)

Satan:
„Ich habe selbst keine Fähigkeit mehr, schlecht zu sein. Ich habe nur noch die Fähigkeit, mich so behandeln zu lassen.” (Übergang vom Aktiven zum Passiven, vom Sadismus zum Masochismus.) Bedingungen: „Es suchen die Menschen in der Liebe Verstehen und Harmonie. Auch mein Suchen ging danach. Und dennoch, in der Ahnung der Disharmonie fühle ich ein schwelgerisches Frohlocken.” (Vorlust!) „So kann die Liebe für mich nie wahres Glück und Vollbefriedigung bergen, denn unbefriedigt muß die Seele verstoßen und vertrieben, einsam und verirrt, ewig umsonst nach Liebe und Verstehen werben … Es ist die Rede von dem, was die Seele entbehrt, von dem „ewig Obdachlosen der Empfindung, die verlassen in der Imagination, sich endlich ein irriges Asyl erschafft, da sie für immer auf das Glück der Vereinigung in Liebe mit einem Manne

 

 

 

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verzichten muß und so einsam weiter und weiter durch das Leben und aus dem Leben schreitet.” (Erkenntnis der Frigidität gegenüber dem normalen Sexualziel.)

Die meergrüne Taube:
„Niemand weiß etwas, niemand” (von der Minderwertigkeit des Geliebten). „Ich weiß von nichts. Was weiß ich von Ehre, da ich liebe. Ich sehe dich an mit einem ahnungslosen koketten Lächeln. Die Schmach in der Hand mit dir ist mir lieber als die Illusion mit Dir auf dem Dache.“ (Lieber wird die Ehre geopfert als die Lustquelle.)

Einer Fernen gewidmet: > jetzt lesen
„Ich brauche sein abgewandtes Profil, damit ich ihn en face begehre.” (Kälte des Objekts zur Erhöhung der Sensation.)

Das Schlafmittel: > jetzt lesen
„Verschlafe die ganze geträumte, gewollte, ersehnte Wirklichkeit.” (In der Skizze „Das Schlafmittel” wird gezeigt, wie das normale [körperliche] Sexualziel nur in der Phantasie, nicht im Realen erstrebt wird. Säuglingsphantasien und Kindheitserinnerungen sind der Inhalt der Vorstellungen im Augenblick, der die Erfüllung bringen soll.) „Lüsterne Bilder? Leidenschaft? Ach nein. Zärtlichkeit? Ach nein — und nur — ach, so behaglich. — Friedlich. Wunschlos.“ (Alles löst sich schließlich im Schlaf wie beim Säugling, der mit dem Lutscher im Munde wunschlos wird.) „Säugling, artiger Säugling, dem alles gleich ist, ganz gleich.”

Das Dilemma: > jetzt lesen
„Habe ich dir nicht darum scheinbar sklavisch und devot gedient, damit du mir dienst ? Dienst, um das Leben zu steigern, fabulante Sensationen aus dem Nichts zu reißen … die Demut meiner Liebe ist ein Despotentum, und all ihr Geben ist ein Nehmen. (Das Objekt dient nur den perversen Zwecken des Lustichs.)

Märtyrer:
„… also zog ich aus und suchte Niederlage. Ich suchte einen, der mich beugte und zermalmte. Verborgen leben in mir entartete Märtyrerdispositionen … ich trage alle die harrenden verirrten Dispositionen zur Liebe und zum Manne.“ (Masochismus)

Die Witwe:
„Ich sitze auf deinem Grabe, ein Sieger. Bin ich ein Mörder, da meine Gedanken dich so vernichten?” (Sadistische Instinkte veranlassen kriminelle Phantasien; die Frage: „Bin ich ein Mörder?” zeigt den Weg, der zu den Selbstbeschuldigungen der Zwangsneurose führt.)

Die Distanz:
„Und wie werbend eine andere Frau langsam versucht, dennoch heimlich Liebe und Verstehen zu erzwingen, so habe ich lautlos mich immer entfernt gehalten und liebend die Distanz von dir zu mir künstlich und sorglich erhalten.“ (Wie der andere Teil sich damit abfindet, erscheint gleichgültig. Es ist interessant zu sehen, wie Freudsche Mechanismen oft geradezu bildlich veranschaulicht werden, so daß allerdings die Vermutung auftaucht, der Verfasserin seien die Freudschen Lehren bekannt gewesen.)

Satan:
„Da ich mir nicht konzediere das Böse, das in mir ruhte, auszuleben, darum bleibt es bedrückt und bedroht mich selbst, weil es andere nicht bedroht.” (Verdrängung krimineller Phantasien, Komplexbildung.)

 

 

 

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Ursache und Wirkung:
„Der kultivierte Mensch erlaubt sich nicht sein Momentangefühl sogleich auszuleben; so bleibt die Ursache, die er zu ignorieren glaubt, versteckt und teilt sich ihm unwillkürlich als Stimmung mit, die er unausgelebt umherträgt, und die sich vielleicht später irgendwann in falscher Wirkung am falschen Platze äußert.“ (Verdrängung und Konversion in andere Vorstellungskomplexe.)

Die Selbstkasteiung:
„Der Arzt sagt: Somatose und Radiumbäder … ich werde bald keinen Willen mehr haben, da ich allen Willen verbrauche, so vieles niederzukämpfen … wenn ich gesund und kräftig wäre, stünde ich nicht ratlos neben dem krankhaften Arrangement, mit dem ich mir in aller Not das Leben komfortabel machte… Aber doch tritt bei mir die Sucht nach dem Glück oder der Gram des Verzichts periodisch gewissermaßen als Anfall auf, und plötzlich steht vor mir plastisch das Erkennen der Dinge, die ich ständig bis ins Bewußtlose mir verschleiere.“ (Verdrängung ins Unbewußte und Durchbruch des Verdrängten ins Bewußte an periodischen Tagen.)

Geständnis:
„Lebend taucht die längst verleugnete Erinnerung vergessener Regungen auf, wieder ersteht für Sekunden das Einst, wie es in seinem Ursprung jugendfroh und natürlich war, wieder entsteht, was in seiner Kindheit zum gesunden Vollenden bestimmt, verstoßen und zertreten wurde.” (Erkenntnis der sexuellen Entwicklungshemmung.)
„Das, was ich leben muß, und das, was ich leben möchte, steht in Widerstreit.“ (Intrapsychischer Konflikt zwischen infantilen und weiblichen Sexualregungen.)
„Nichts zwingt mich zu so tiefem und andächtigem Neigen wie die Andacht vor der klaren großen Empfindung. Doch mir versagte und veränderte das Leben den Reichtum solcher Möglichkeit.“ (Der Fluch des Infantilismus.)
„. . . es ist so, daß man die Nachteile der Angelegenheit als Vorzüge hinstellt, da man ihr gegenüber ganz hilflos und verlassen bleibt.“ (Verkehrung ins Gegenteil, Lebenslüge!)
„Meine Gedanken schufen ein letztes Refugium für mich.” (Flucht in die Neurose! )
„Ich brauche die Überlegung, die wie ein gerissener Rechtsanwalt die Nuance der Dinge verkehrte, und einen sorgsam gearbeiteten raffinierten Leitplan durch das Labyrinth der Empfindung.“ (Der Weg, den die Psychoanalyse zurückzuverfolgen sich bemüht.)
„Was verirrt, verzerrt, absurd und paradox anmutet“ (das neurotische Arrangement), „das ist wohl zu bekritteln und zu verachten, da man einen Lebenden durch die Straßen wandeln sieht, wenn man nicht bedenkt, daß man sonst vielleicht achselzuckend über sein Grab stolpern würde.“ (Erklärung der Notwendigkeit des Arrangements und Begründung des Widerstandes gegen den Versuch der psychoanalytischen Entlarvung. Das Leben wird nur durch die Neurose erträglich.)

Was die „Heldin” der Godwin über das Niveau der alltäglichen Infantilen hinaushebt , ist neben der Gabe der künstlerisch-intuitiven Selbstbeobachtung, dem hohen Verständnis für psychologische Zusammenhänge, neben dem Intellektualismus, der immerhin schon weniger selten ist, wenn er auch, wie Juliusburger mit Recht betont, einer

 

 

 

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in die Tiefe gehenden Prüfung in der Regel nicht standhält, vor allem die scheinbar ungemein große Vielseitigkeit auf erotischem Gebiet. Beweist diese „Differenzierung“ aber einerseits nichts anderes als die enorme Wertschätzung des sexuellen Faktors, die einen Dilettantismus im Genießen von erotischen Sensationen nicht zuläßt, so umfaßt sie andererseits lediglich die Mehrzahl der Infantilen mit Ausschluß der reifen weiblichen Sexualregungen, ist also nur als eine Hochzüchtung dessen aufzufassen, was in seinen Keimen von Freud die polymorph perverse Anlage des Säuglings genannt wurde.

Ich will nicht unerwähnt lassen, daß ich in Büchern wie „Das nackte Herz“, so sehr ich sie vom Standpunkt des Sexualforschers aus begrüße, immerhin eine gewisse Gefahr erblicke. Wenn ich auch der Ansicht Ausdruck gab, daß im Allgemeinen das gesund Angelegte einer gesunden Vorstellung entgegengeht, so soll damit natürlich nicht gesagt sein, daß es sich erübrige, Schädlichkeiten von den heranreifenden Jugendlichen fernzuhalten.

Daß „Das nackte Herz“, wenn es unter unreifen Backfischen, deren Sexualempfinden noch ein infantiles ist, Verbreitung fände, eine unheilvolle, dem Ssaninismus der russischen unreifen männlichen Jugend vergleichbare, der Fixierung des Sexualtriebs immerhin förderliche geistige Epidemie hervorrufen könnte, ist wohl denkbar. Gefährlich wird das Buch gerade dadurch, daß es in künstlerisch ansprechender Form die infantilen Triebregungen mit dem Zauber der geistvollen und hochkultivierten Persönlichkeit zu umkleiden weiß, der zwar nichts Menschliches fremd ist, die das Menschliche aber in verfeinerter Form zu genießen gelernt hat. Es ist nicht uninteressant festzustellen, daß das Verfeinerte genau besehen nichts anderes ist als das Infantile, daß also, was als Hochzüchtung imponiert, im Grunde ein Tiefstand ist.

Das erste Werk der Godwin, „Begegnungen mit Mir,“ wird von der Kritik als eine Causerie bezeichnet, die in ihrer flotten Selbstverständlichkeit gar nichts Deutsches habe, manchmal Pariser, manchmal Wiener Kultur aufweise. Dies trifft allerdings zu, indessen ist es fraglich, ob die Bezeichnung „Kultur“ für solche Erzeugnisse der Entartung am Platze ist. Die Benutzung der kulturellen Errungenschaften zur Überfeinerung hat nicht eine Erhöhung, sondern eine Verminderung der Persönlichkeitswerte zur Folge und stellt somit in gewissem Sinne das Negativ der Kultur dar. Wenn ich im vorstehenden ein Werk der schöngeistigen Literatur zum Gegenstand sexualwissenschaftlicher Untersuchung gemacht habe, so erblicke ich die Berechtigung dazu in dem Umstande, daß das „Ich“ des Buches, wenn es auch mit der Verfasserin nicht identisch sein sollte, als eine wirklich existierende Person aufgefaßt werden kann, die ihr Inneres der ärztlichen Betrachtung preisgibt. Damit schließe ich mich keineswegs denen an, die sich bei ihren Forschungen auf Werke der modernen Literatur stützen und dabei außer acht lassen, daß sie wenn auch gut erdachte, so doch immerhin nur erdachte Personen vor sich haben. Analysen dichterischer Figuren wirken daher auch selten überzeugend. So ist beispielsweise der Versuch Theodor Reiks 1) an der „Frau Berta Garlan“ Schnitzlers, die Erscheinungen des Narzißmus

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1) Theodor Reik, Zur Psychoanalyse des Narzißmus irn Liebesleben der Gesunden (Zeitschr. f. Sexualwissenschaft, II. Bd. 2. Heft).

 

 

 

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zu demonstrieren, als völlig mißlungen zu bezeichnen. Wird einmal die Bedeutung des Verlangens geliebt zu werden im Gegensatz zu dem Wunsche selbst zu lieben für den Narzißmus von der orthodoxen Freudschen Schule außerordentlich überschätzt, so kann überdies im vorwiegenden Fall erst gar nicht von Narzißmus die Rede sein. Wer den Roman aufmerksam gelesen hat, weiß, daß Frau Berta Garlan aus dem Gefühl ihrer Armseligkeit und der Vereinsamung heraus nichts anderes als Erwiderung ihrer neu aufgelebten Liebe zu dem Jugendfreund wünscht, eine Erwidrung, auf die sie nur im Traume, nämlich in dem von Reik angeführten Tagtraume, zu hoffen wagt, und auf die in der Tat ja auch nicht die mindeste Aussicht bestand. Solche gezwungene und obendrein falsche Deutungen wie die Reiks, sind allerdings wenig geeignet, den Freudschen Lehren zur Anerkennung zu verhelfen.


[Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik 1916 – Band 3 Ss. 214-223]

Author: Andreas Schüler

Geboren 1970 · Aufgewachsen in Nordhessen · Studium in Frankfurt und Halle · Lebt und arbetet in Berlin · Stationen als Ghostwriter, Konzepter, Art Director, Onlineredakteur, Creative Director, Head of Content, Head of Marketing. Vater von zwei Söhnen.

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