Kein Markt für erlesene Handeinbände?
Nach meinen bisherigen Recherchen kann ich mich der Einschätzung Christian M. Nebehays nicht anschließen. Ich habe mir einmal den Spaß gemacht, die aus Annoncen und Druckvermerken nachweisbaren Arbeiten Carl Sonntags jun. in einer Art vorläufigem Werksverzeichnis zusammenzutragen (siehe unten). Schon aus dieser lückenhaften Übersicht geht hervor, dass Sonntag zwischen 1907 und 1913 über zehntausend Einbände für Luxus- und Vorzugsausgaben gefertigt hat. Dabei nicht berücksichtigt sind die naturgemäß größeren Auflagen in Papp- und Halbleinenbänden, von denen hier beispielsweise die 2100 hübschen Pappbände zu Brentanos Italienischen und spanischen Novellen, die Monumentalausgaben der Nibelunge Nôt und der Kudrun mit je 1300 Exemplaren sowie weitere Normalauflagen und „einfache Ausgaben“ von Drucken Hans von Webers zu nennen sind. Auch seitens des Buchhandels dürfte sich noch einiges an Aufträgen in der Werkstatt Sonntag eingefunden haben; so berichtet Hans von Weber beispielsweise im Juni 1911, dass „… schon seit einigen Jahren die Buchhandlung von Alfred Lorentz in Leipzig bei Carl Sonntag und anderen Bindern schöne Einbände“ herstellen lasse und dass auch „… der neue Inhaber der Putze’schen Kunsthandlung in München, Hans Goltz, in seinen Goltzbänden, die meist der Münchener Buchbinder Herkomer, sowie auch Carl Sonntag in Leipzig binden, geschickt zusammengestellte Sortimente anfertigen“ lasse, die großen Anklang fänden.
Zahlreiche deutsche Buchbinder erlebten gerade in der Zeit während und nach Sonntags plötzlicher Geschäftsaufgabe ihren Aufschwung und ihre besten Jahre, darunter Namen wie Walter Gerlach, Otto Fröde, Frieda Thiersch, Peter A. Demeter, Johannes Gerbers, Maria Lühr, Otto Pfaff, Karl Ebert, Ernst Rehbein, Franz Weiße, Ignatz Wiemeler und Otto Dorfner. Auch die Reihenwerke, für die Sonntag tätig gewesen war, wurden zum Teil mit großem Erfolg weitergeführt, und eine Vielzahl neuer Verlage und Pressen spezialisierten sich auf hochpreisige bibliophile Ausgaben.
Und nicht zuletzt begannen auch die Großbindereien, der zunehmenden Nachfrage nach bibliophilen Einbänden Rechnung tragend, Handbindeabteilungen einzurichten und diese unter die Leitung anerkannter Kunstbuchbinder zu stellen. So erlangte zum Beispiel Peter A. Demeter als Leiter der Handbinderei von Hübel & Denck 1913/14 internationale Aufmerksamkeit, Heinrich Hußmann reüssierte in der zuvor von Walter Tiemann geleiteten Handeinbandabteilung von E. A. Enders, Otto Fröde machte sich bei der Leipziger Buchbinderei AG vormals G. Fritzsche einen Namen, und Otto Ulrich Fischer kam bei H. Sperling ganz groß raus. Wieder andere Einbandkünstler verschafften sich durch ihre Lehrtätigkeit ein regelmäßiges Einkommen und zugkräftige Werbung, so Otto Dorfner in Weimar an der Großherzoglich Sächsischen Kunstgewerbeschule und am Bauhaus, Paul Kersten und Maria Lühr an der Kunstgewerbeschule Berlin-Charlottenburg und am Berliner Lette-Verein, Otto Pfaff in den Werkstätten der Stadt Halle an der Burg Giebichenstein oder Ignatz Wiemeler zunächst an der Kunstgewerbeschule Offenbach sowie später an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig.
Natürlich erscheint dieser Vorstoß der Großbindereien in die Domäne der Kleinen zunächst als massive Konkurrenz. Doch tatsächlich hatten sich die Großbindereien schon immer vor allem aus Prestigegründen mit dem Binden bibliophiler Kleinstauflagen und kostbarer Einzelstücke befasst. Und wie war es denn überhaupt um die Leistungsfähigkeit der kleineren Meisterwerkstätten bestellt? Wieviele Einbände umfasste ein kleiner, ein mittlerer, ein großer Auftrag? In einem Aufsatz aus dem Jahre 1912 meint der spätere Meister der Einbandkunst Hans Dannhorn, dass es für den Kunstbuchbinder-Meisterbetrieb nicht möglich sei, Auflagen von mehreren hundert Stück in hochwertigen Lederbänden zu liefern – realistisch seien Kleinauflagen von 10 bis 100 Exemplaren, für alles darüber seien die Handeinbandabteilungen der Großbuchbindereien der richtige Ansprechpartner. Legt man Dannhorns Einschätzung zugrunde, dürfte die Auslastung Carl Sonntags nicht so dramatisch schlecht gewesen sein (siehe Werksverzeichnis).
Eine weitere Stellungnahme Dannhorns ist in diesem Zusammenhang interessant: Im Jahr 1923 schreibt er, aus geringer zeitlicher Distanz zurückblickend:
„Um 1914 schien es, als ob der Buchbindekunst in Deutschland eine Zeit ungestörter Entfaltung beschieden sei. Die Leistungen wurden immer besser und der Kreis derer, die sie zu schätzen wußten, wurde durch kluge Propaganda erweitert. In der stürmischen Nachkriegszeit wurde das kostbare handgebundene Buch eine gesuchte Kapitalanlage. Wir erlebten das Wunder, dass in den Handbindereien die Aufträge kaum zu bewältigen waren, während sie in den Großbindebetrieben schon zurückgingen. Heute aber fehlen die Aufträge …“
Hans Dannhorn: „Allerlei über Handeinbände“. In: „Bücherstube“, 3. Jg. 1924, S. 427)
Somit hätte Carl Sonntag jun. nicht nur keine schlechten Bedingungen, sondern im Gegenteil einen idealen Nährboden gefunden, um sein Geschäft erfolgreich fortzuführen. Gerade ihm, dem auf der Höhe seines Ruhmes stehenden, mit erstrangigen Kontakten ausgestatteten und zu den Besten seiner Zeit gehörenden Branchenprimus, hätte die Kundengewinnung doch leichter fallen müssen als den vielen im Jakob Krauße-Bund und später M.D.E. organisierten Kunstbuchbindern, die teils noch deutlich elitärere Käuferschichten ansprachen als Sonntag und trotz Kriegswirren und nachfolgender Inflation stets ihre Abnehmer fanden. Und sicher hätte ihm in der Bücherstadt Leipzig auch der Weg in die Führungsebene einer der großen Handbindeabteilungen oder in die Hochschullaufbahn offen gestanden.
Dass sich Carl Sonntag jun. anders entschied, ist nach aktueller Aktenlage nur mit persönlichen Gründen erklärbar. Vielleicht schien ihm der väterliche Betrieb lukrativer, vielleicht wollte er seiner jungen Ehefrau und den Kindern ein sicheres Einkommen bieten, vielleicht gab es auch einen bislang nicht dokumentierten Vorfall, der ihm dauerhaft die Lust an der Buchbinderei verdorben hat. Sonntags Versuch eines Neuanfangs als Buchbinder in Berlin ist übrigens meines Wissens nur bei Nebehay nachzulesen – das Berliner Adressbuch von 1930 verzeichnet ihn als Buchhändler.